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Camino: Mein eigenes Gefängnis habe ich verlassen

1. Oktober 2022

Michael King fragte mich, ob ich einen Artikel schreiben könne über den Camino, wie man den Jakobsweg in Spanien nennt. Grob solle es über Gefangensein und Freiheit gehen, um Grenzen und Grenzüberwindung. Ich lehnte ab zu schreiben, war dieser Camino (es war mein siebter) doch so ganz anders, als all die anderen zuvor. Ich lehnte ab mit der Begründung, dieser Weg sei für mich sehr emotional verlaufen, zudem wären diese Emotionen und deren Ursachen mein Thema und ich könne nicht über ein anderes Thema schreiben, was nicht meines sei.

Aber Michael hatte recht, denn sein Thema war das meinige. Gefangensein und Freiheit, Grenzen und die Erfahrung Grenzen zu überschreiten. Und dieses Thema nahm seinen Anfang im Dezember letzten Jahres. Da erhielt ich – der Nichtraucher, der Bioesser, der Extremwanderer, der 100 km- Marschierer die Diagnose Lungenkrebs. Im Januar diesen Jahres entfernte man mir in zwei Schritten linkseitig die Lunge komplett.

Erkrankung nicht Priorität geben

Da war sie die Grenze, die ich überdeutlich spürte. Bei jedem Wort, das ich sprechen wollte, bei jedem Schritt. Und ich empfand meinen eigenen Körper als ein sehr unkomfortables Gefängnis. Mein großer Traum im Juni diesen Jahres (nach meiner Pensionierung) einen 12.000 km Trip zu absolvieren, den ich schon detailliert vorbereitet hatte, zerrann mir wie Wasser zwischen den Fingern. Mein Kopf war leer und mein Körper unbrauchbar. Mir fehlte nicht nur die Luft, mir fehlte auch Ruach, der Atem Gottes. So glaubte ich, aber das muss eine Fehleinschätzung gewesen sein, denn ich wollte (mich) nicht aufgeben. 15 Minuten langsam Gehen waren in der Reha noch ein kräftezehrendes Unterfangen, das mich in die totale Erschöpfung führte. Und doch spürte ich, dass aus 15 Minuten nach 2 Wochen schon 30 Minuten wurden. Dieser kleine Erfolg gab mir Aufwind. So schmiedete ich einen Plan. Ich will mein Gefängnis verlassen, ich will meiner Erkrankung nicht die Priorität geben, vor allen meinen Träumen und Plänen.

Spüren, dass das Leben in mir ist

Aus Krankenhaus und Reha entlassen begann ich mit kleinen Spaziergängen. Irgendwann war es soweit, ich lief drei Tage Eifelsteig, zunächst in Begleitung, später auch alleine. Dass es ein Kampf war, ahnte ich vorher und es wurde mir in jeder Minute bestätigt. Aber der Kampf hatte es mir immerhin schon möglich gemacht in meinem neuen Tempo in der Eifel zu laufen. Und gerade deswegen reifte der Plan: ich will nach Santiago. Ich will laufen, ich will spüren, dass das Leben in mir ist und nicht an mir vorbei zieht. Ich sprach mit meinen Ärzten und die erbaten sich alle drei eine Postkarte. Dieser Wunsch war mein Startsignal.


Am 3. September startete ich im französischen Grenzörtchen San-Jean-Pied-de-Port. Auf nach Roncavalle. 25 km. 23 km davon bergauf. Ein nebliger Tag und ich erwägte ernsthaft abzubrechen. Tat es aber nicht. Ich musste erst einmal über die Pyrenäen. Wenigstens versuchen musste ich es. Immerhin hatte ich es ja schon auf 1400 Höhenmeter geschafft. Zwar im Schneckentempo, aber geschafft. Was mich am anderen Tag faszinierte, war der Sonnenaufgang. Als ich in der Frühe des Tages die Sonne sah, schossen mir die Tränen in die Augen und ich zog meine Wanderschuhe wieder an.

Jeden Morgen geht die Sonne auf

Ich lernte Menschen kennen, die mit mir auf dem Weg waren und nur, wer den Camino kennt, weiß, wie schnell eine Vertrautheit unter den Pilgern wächst, die unerklärlich ist. Jean, der sich von seiner Frau getrennt hat, und Klarheit sucht. Peter, aus England, der den Weg seines Sohnes hier fortsetzte, der im letzten Jahr auf dem Weg tödlich verunglückt war. Brun, der mit seinen 24 Jahren keine Perspektive mehr sah, suchte hier eine Antwort. Und Julia, Britta, Christoph, Robert und viele andere und ich, der mit der halben Lunge. Wir wollten alle dasselbe. Klarheit, Perspektive und Leben spüren.

Und jeden Morgen ging die Sonne auf. Mit Beständigkeit. Verlässlich. Die Prioritäten verschoben sich in mir. Und als ich am 28. September vor der Kathedrale in Santiago stand, musste ich vor Freude weinen. Das Gefängnis hatte ich verlassen. Wir – die wir über ca. 800 km zu einer Caminofamilie zusammen gewachsen waren, saßen da zu hunderten vor der riesigen Kirche. Lachen und Weinen, Umarmungen und liebe Worte. Der Gottesdienst um 12 Uhr in der Kathedrale war wie eine Bestätigung. Ich habe nicht nur Luft genug in der halben Lunge für ein erfülltes Leben, ich hatte immer auch den Ruach Gottes in mir. Buen Camino. Allen, die eine Grenze spüren.

Hans-Gerd Paus

 

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