Der Markt der Möglichkeiten am 39. Evangelische Kirchentag in Hannover befindet sich auf dem Messegelände Nord. Hier präsentiert sich in weitläufigen Hallen unter anderem die Evangelische Gefängnisseelsorge aus dem Land Niedersachsen und bundesweit. Um dorthin zu gelangen, braucht man ein wenig Geduld. Ein gültiges Kirchentags-Ticket ist nötig. Die Einlasskontrollen lassen die BesucherInnen geduldig über sich ergehen.
„Solch eine Prozedur kennt man aus den Justizvollzugsanstalten. Ausweiskontrolle und ein Sicherheitscheck sind notwendig“, sagt ein Ordner in neongelber Weste. In der Halle 5 angelangt, verliert man sich buchstäblich bei all den Initiativen und Präsentationen seelsorgerlicher Angebote. „Die evangelische Gefängnisseelsorge müssen Sie irgendwo bei der Polizei- und Militärseelsorge finden“, meint ein Mitarbeiter des Hospizdienstes.
Bundespräsident Steinmeier im Gespräch
Tatsächlich kann man das Wort „Justiz“ auf blauem Streifen an einem vergitterten Gefangenentransportwagen (GTW) entdecken. Zwei Gefängnisseelsorger von der JVA Celle befinden sich am Stand. Sie laden die Vorübergehenden ein, sich in den VW-Bulli zu setzen und Geräusche des Gefängnisses anzuhören. „So kommt man ins Gespräch“, erzählt der Celler evangelische Kollege. Er verweist auf die Angebote der Gefängnisseelsorge. Darunter ist die Angehörigenarbeit mit Kindern von Inhaftierten. Dazu gibt es ein eigens ein Buch für Kinder und deren inhaftierte Väter, das präsentiert wird. Dies interessiert den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier besonders. Am ersten Tag des viertägigen Großereignis verweilte das Staatsoberhaupt am Stand der evangelischen Gefängnisseelsorge. Im Gespräch mit (ehemaligen) Gefangenen und den Seelsorgenden vor Ort ist der Austausch großgeschrieben. „Das war ein schönes Zeichen und eine Würdigung unserer Arbeit“, sagt der Celler Gefängnisseelsorger.
Sich gesellschaftlich und kirchlich äußern
Der Kirchentag ist eine Gelegenheit, Politik und gesellschaftliche Fragen in den Mittelpunkt zu rücken. So sagt der katholische Bischof Georg Bätzing: „Der Evangelische Kirchentag ist eine wunderbare Möglichkeit der Begegnung und des inhaltlichen Austauschs. Kirchen- und Katholikentage zeigen, dass die Kirche(n) mit einem breiten theologische, aber auch politischen Anspruch in der Öffentlichkeit auftreten. Es ist gut, wenn sich ChristInnen mit ihrem Glaubenszeugnis öffentlich äußern, besonders in unserer Gesellschaft“, betonte Bischof Bätzing. Zur Ökumene sagt er: „Man kann nicht überspringen, was in 500 Jahren auseinandergegangen ist. Wir müssen da dranbleiben, als Geschwister uns zu begegnen, uns zu fragen, was eint und was trennt uns, was können wir gemeinsam tun – als Zeichen für die vielen“, meint der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz. Zudem fügt er hinzu: „Ich wünsche es mir und ich tue alles dafür, dass Geschlechtergerechtigkeit da ist. Frauen müssten auch in der katholischen Kirche unterschiedslos Leitungsverantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen können“, betont der Bischof. Ist das ein frommer Wunsch ohne Konsequenzen, mögen sich manche fragen.
Zwar gebe es nicht „eine gemeinsame irgendwie konstruierte“ Form eines gemeinsamen Gottesdienstes, sondern „wir laden uns gegenseitig ein zur Teilnahme an der Liturgie der einzelnen Konfessionen“, sagte der Limburger Bischof. Wenn dann ein evangelischer Christ sich im Gewissen dafür entscheide, im katholischen Gottesdienst die Kommunion zu empfangen, dann werde diese ihm gereicht. Auch das sei ein großer Schritt, der innerkatholisch und in Rom auf Widerspruch gestoßen sei. „Aber wir praktizieren diesen Schritt, der auch mit der katholischen Lehre, wie sie formuliert ist, übereinstimmt“, so Bätzing.
Neue, andere Formen
In der Gefängnisseelsorge ist dies – zumindest in der ökumenischen Zusammenarbeit – schon längst Wirklichkeit. Verschiedene kulturelle Hintergründe, multireligiös geprägte wie bekenntnisfreie Menschen treffen konzentriert an dem Ort wie des Gefängnisses aufeinander „Ausschließlich konfessionelle Arbeit am AndersOrt einer Justizvollzugsanstalt zu betreiben, ist längst Geschichte“, sagt ein Gefängnisseelsorger am Rande. „Es geht darum, die Lebenserfahrungen und Biografien der Inhaftierten ernst zu nehmen und für Menschen in Krisensituationen da zu sein. Da spielt die religiöse Zugehörigkeit weniger eine Rolle“, führt der Gefängnisseelsorger aus. Ein Großteil der Gefangenen ist mit Ausnahmen weder getauft noch haben sie eine kirchliche Sozialisation hinter sich. „Dies ist kein Defizit, sondern eine Möglichkeit, anders ins Gespräch zu kommen“, sagt entschlossen ein Besucher. Er hört sich die Geräusche des Gefängnisses im GTW an und ist betroffen. „Gut, dass es an solchen Orten Menschen gibt, die Vertrauenspersonen sind und trotz allem menschlich agieren“, meint der Besucher.
Kirchentag in der Innenstadt
In der Innenstadt von Hannover merkt man wenig vom Evangelischen Kirchentag. Nur dass an einem Platz ein Posaunenchor spielt und eine kritische Skulptur zu Luther aufgestellt ist. „Irgendwie scheint alles ausgelagert zu sein auf das Messegelände. Dorthin gelangen nur Menschen mit bezahlten Kirchentags-Tickets“, äußert sich ein Mann am Dönerimbiss in der vollen Stadt am Einkaufssamstag Ob das ein Bild ist für die Spaltung in einer Gesellschaft? Oder ein Symbol für die Gefängnisse, deren Wirklichkeiten sich auch draußen widerspiegeln? Die Welten sollten sich nicht weiter auseinanderdividieren, sondern „wir sollten anerkennen und respektieren, dass es unterschiedliche Blickwinkel gibt. Aber wir sind alle Menschen, und so sollten wir menschlich aufeinander zugehen“, ist das Resümee einer Kirchentagsbesucherin.
Michael King
Bundespräsident spricht mit Entlassenen
„Danke für die inspirierenden Gespräche“ – unter dieser Überschrift postete Bundespräsident Frank Walter Steinmeier auf seinem Instagram Account die Fotos von seinem Besuch bei der Gefängnisseelsorge. Er war am Donnerstag auf dem Markt der Möglichkeiten und nahm sich eine halbe Stunde Zeit für Gespräche mit MitarbeiterInnen und BesucherInnen des Standes der Evangelischen Gefängnisseelsorge.
Zunächst setze er sich zu den ehrenamtlichen StandmitarbeiterInnen, die noch im Gefängnis oder in der Maßregel leben, beziehungsweise gerade entlassen waren. Er stellte viele Fragen zu ihren Erfahrungen im Vollzug und mit der Seelsorge. Es interessierte ihn besonders, welche Bedeutung die Begegnung mit Seelsorgenden im Vollzug für ihr zukünftiges Leben in Freiheit haben kann. Nach einigen Fragen an die Seelsorgenden des Standes wandte er sich Kindern zu, die sich gerade das Vater-Kind-Projekt in einer Anstalt erklären ließen. Die Kinder stellten ihm das Projekt voller Überzeugung einfach selbst vor, denn sie hatten sich gerade zuvor über die Situation von Kindern inhaftierter Väter erkundigt.
Knastgeräusche
Das Standkonzept, das zu Begegnungen zwischen BesucherInnen des Kirchentages, Menschen mit Vollzugserfahrung und Seelsorgenden anregte, war beim Besuch des Bundespräsidenten aufgegangen. Und so blieb es an den nächsten Tagen: Gerade Jugendliche interessierten sich zunächst für die „Knastgeräusche“ mit Audioaufnahmen von der oft sehr funktionalen Geräuschkulisse in einem Gefängnis. Viele blieben danach länger, weil sie Fragen an die Gefangenen hatten, die den Stand mitbetreuten. Für jugendliche und erwachsene BesucherInnen war das Hören von Schlüsselgeklapper, von Klängen der Stahltüren und der hallenden Schritte auf den Gängen und vom sachlichen Knarzen der Durchsagen ein intensives Erlebnis, das das Leben in einer JVA zumindest akustisch nachvollziehbarer machte.
Knastratte Rezzo
Da waren viele froh, dass auf dem Stand auch noch Aufnahmen vom Summen der Bienen eines Gartenprojektes in einer Anstalt, von einem von Gefangenen komponierten Rap, einem Gefängnisgospelchor und von Stimmen des Projektes „Väter lesen für ihre Kinder“ zu hören waren. Kinder und Eltern waren besonders von der „Knastratte Rezzo“ und dem dazugehörigen Buch aus dem Vater-Kind-Projekt in einer JVA fasziniert. Es kamen auch Menschen mit speziellen Fragen und Hintergründen an den Stand der Gefängnisseelsorge: Menschen mit Angehörigen, die in einer JVA leben, solche, die selbst schon mal inhaftiert waren – und sei es wegen Wehrdienstverweigerung – und auch Menschen mit sehr kritischer Haltung gegenüber der Gefängnisseelsorge-Arbeit. Sehr ermutigend waren die Gespräche mit StudentenInnen und Auszubildenden, die sich – ob ehrenamtlich oder beruflich – für ein Engagement in der Gefängnisseelsorge interessierten.
Jan Postel | Gefängnisseelsorge-Konferenz Niedersachsen/Bremen