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Aus dem Rahmen fallen. Gefängnis damals und heute

10. Juli 2020

Aus dem Rahmen zu fallen fällt auf, oft unangenehm. Es weckt Verwunderung, Erstaunen. Es befreit aus dem vorgefertigten Rahmen, der die Grenze absteckt, in der man sich zu bewegen und zu benehmen hat: Das tut man nicht. Das gehört sich nicht.¹ Menschen können aus dem Rahmen fallen, weil sie anderen Menschen gegenüber feindlich gesonnen sind. Deshalb brauchen wir Rahmen und Grenzen. Selbst Jesus fiel ständig aus dem Rahmen.

In einem Kommentar zu den Ausschreitungen in Hamburg heißt es in den Lübecker Nachrichten: „Groß ist die Gewaltbereitschaft bei den Autonomen: Bei den Linken sowieso, das beweisen die Mai-Krawalle seit langem. Doch jetzt marschieren auch bei den Aufzügen der Rechten ‚rechte Autonome‘ mit. Während das Gros der Neonazis den gesetzestreuen Biedermann gibt, prügeln sie genau wie ihre linken Pendants stumpfsinnig auf alles ein, was ihnen vor die Knüppel kommt. Leben, Gesundheit und Würde Anderer gelten ihnen nichts. Nennen wir sie also allesamt bei einem Namen: Menschenfeinde.“ [2] Menschen können aus dem Rahmen fallen, weil sie anderen Menschen gegenüber feindlich gesonnen sind. Deshalb brauchen wir Rahmen und Grenzen. Jesus fiel ständig aus dem Rahmen. Am Sabbat heilt er Kranke, weil das Wohl des Menschen über dem Gesetz steht. Er scheut sich nicht, mit übel beleumundeten Leuten am Tisch zu sitzen, weil Gott jeden Menschen liebt. [3] Nicht umsonst haben wir die Kapelle in der JVA Neumünster Zachäuskapelle genannt, weil Jesus zu Gast sein will bei den Sündern. Den Rahmen, in dem sich nach damaligem Verständnis Gott zu verhalten hatte, dass nämlich auf die Sünde direkt die Strafe folge, zerbricht er.

Man kann als Menschenfeind aus dem Rahmen fallen wie die „rechten und linken Autonomen“. Man kann aber auch als Menschenfreund aus dem Rahmen fallen wie Jesus von Nazaret. Menschen, die in diesem Geist Jesu Christi leben, haben einen langen Atem. Sie fallen aus dem Rahmen und fallen positiv auf: Glaubwürdige Menschen, bei denen Theorie und Praxis, Reden und Tun übereinstimmen; die für ihre Überzeugung eintreten, auch wenn das Nachteile bringt; die nicht nur die eigenen Vorteile nutzen; die Verantwortung übernehmen, auch für das, was sie verursachen; die eine positiv optimistische und zugleich realistische Einschätzung haben. Das allein macht Menschen aber noch nicht zu Christen. Das Zentrale des Christlichen sind Glaube und Vertrauen. Menschen, die so leben, die auch im Angesicht tiefster Bedrängnis und des Todes noch glauben und vertrauen können, fallen aus dem Rahmen. [4]

Hermann Lange, einer der vier Lübecker Märtyrer, schrieb vor seiner Hinrichtung im Holstenglacis in Hamburg:

„Ich habe von Anfang an alles in Gottes Hände gelegt. Wenn Er nun dieses Ende von mir fordert – gut, es geschehe Sein heiliger Wille. Ganz der Wille Gottes! Wenn der Tag sich neigt, wenn des Lebens Sonne nur noch mattes Glänzen zeigt, wenn sie, tiefer sinkend, nah dem Untergehen, ganz der Wille Gottes soll auch dann geschehen! Ganz der Wille Gottes! Ob nach kurzem Pfad, ob nach langem Wandern, diese Stunde naht. Freunde oder Feinde mich dann sterben sehn. Ganz der Wille Gottes soll auch da geschehn. Noch einmal bitte ich Euch darum, geht Ihr Euren Weg in der Haltung, in der ich meinen gehe: Ruhig, stark und fest… So, nun muß ich meine letzten Zeilen schreiben. Ich glaube, ich brauche euch nicht um Verzeihung zu bitten für meine Schwachheiten und Fehler, Eures Verzeihens nie ich gewiß… Ich umfange Euch alle noch einmal mit einem innigen Kuß der Liebe. Auf Wiedersehen oben beim Vater des Lichtes! Euer glücklicher Hermann.“ [5]

Johannes Prassek, Eduard Müller und der Student Pfürtner verbrachten die Untersuchungshaft im Marstallgefängnis; Hermann Lange, Karl Friedrich Stellbrink und die anderen Laien kamen hier ins Lauerhofgefängnis. Die Geistlichen und die „gefährlichsten“ Laien kamen in Einzelhaft. Besonders im Marstallgefängnis verlief der Alltag in tiefster Eintönigkeit. Der Kaloriengehalt der Gefängniskost war überaus gering. „In der sogenannten ‚Freistunde‘ schlurften die Gefangenen stumm in ihren häßlichen graublauen Drillichanzügen auf Holzpantinen einher, Prassek und Müller und die beiden Soldaten in einer Reihe mit Strafgefangenen.“ [6] Das Sprechen in der Freistunde war nicht erlaubt, nur die aufmunternden Blicke gaben zusätzliche Motivation durchzuhalten. Johannes Prassek schreibt in einem Brief vom 11. November 1942:

„Dieses Haus, in dem ich jetzt wohne, scheint mir so oftmals ein Haus, in dem immer alles in Fülle und Übermaß kommt, wenn es kommt: das Glück wie das Leid, die Freude wir der Schmerz, die Finsternis wie das Licht, ja, selbst Gott scheint sich hier bisweilen in diesen Extremen zu bieten oder zu entziehen; Tage gibt es, die ganz randvoll sind von Ihm, an denen es keinen Gedanken gibt, der nicht mit ihm geladen ist, von ihm herkommend oder zu ihm hingehend, Tage, wo jeden Augenblick wie eine lichte Sonne seine Freude ausgebreitet ist. Und dann auch wieder ganz andere Tage, wo er scheinbar so weit, weit weg von uns ganz andere Wege geht, als wir sie überhaupt gehen können, wo er so unmittelbar uns das zum Bewußtsein bringt, daß er doch immer der ganz andere ist, den wir niemals fassen können, ja, dem wir in solchen Augenblicken, wo wir Ihn glaubten gefaßt zu haben, in Wirklichkeit viel ferner waren als dann, wenn wir uns weit weg von Ihm glaubten. Und das zeichnet sich dann alles viel tiefer, mit viel, viel mehr spürbaren Ecken und Kanten in das Tagewerk ein, das hier gefordert und geleistet wird, als das draußen jemals der Fall war oder jedenfalls empfunden wurde.“ [7]

Wie erleben Gefangene heute das Gefängnis?

Erich beschreibt es so:

„Wo wir sind? An einem Ort, der eigentlich dem Leben feindlich gesinnt ist. Ein Leben voller Fremdbestimmung. Ohne wirkliche Nähe. Ohne Zärtlichkeiten. Ohne gewollte Zweisamkeit. Ohne Familie. Ohne alte liebgewonnene Bekanntschaften. Aber trotzdem gibt es auch hier neue Freundschaften, ehrliches Vertrauen und echte Freunde. All diese Einschränkungen haben mein Leben vor der Inhaftierung nicht berührt. Das Gegenteil hat mein Leben ausgemacht und fehlt mir sehr! Um aber auch hier einigermaßen sinnvoll und glücklich zu leben, habe ich vor langer Zeit die Entscheidung getroffen, solche Gedanken und Gefühle zu verdrängen. Ich lebe in dem Glauben und in der Hoffnung, all diese Gefühle irgendwann wieder in Freiheit ausleben und genießen zu können.“ [8]

Welche Bedeutung der Gottesdienst für Gefangene hat, beschreibt Dieter so:

„Ich muss es zugeben: Ich war nie ein tief religiöser Mensch. Erst nach einer Begebenheit in der Untersuchungshaft fing ein Korn in mir an zu sprießen. 2002 habe ich meine geliebte Partnerin getötet. Ich habe mir nie die Frage nach meiner Schuld gestellt. Ich war und bin schuldig – ohne jede Einschränkung. Die Frage, die ich mir gestellt habe und immer wieder stelle, ist: Wie kann ich mit dieser Schuld leben? Da werde ich unsicher und habe viele Selbstzweifel. Nach einiger Zeit in der U-Haft hatte ich ein Gespräch mit einer Ordensschwester. Das hat mich einen Weg finden lassen. Ich erzählte ihr, was für eine Schuld ich trage und dass ich hilflos bin. Da hatte die doch die Frechheit, mir zu sagen: ‚Dir ist doch vergeben, Dieter!‘ Diese Zusage hat mich gerettet. Mein Glaube beinhaltet für mich Hoffnung. Hoffnung auf Frieden für mein Opfer. Hoffnung auf Frieden für mich – irgendwann in der Zukunft. Bei jedem Gottesdienst zünde ich eine Kerze an. Ich tue es für mein Opfer – in der Hoffnung, dass sie bei Gott Ruhe und Frieden gefunden hat.“ [9]

Wir können aus dem Rahmen fallen, indem wir Menschen verachten, wie es tagtäglich passiert. Wir können aus dem Rahmen fallen, wenn wir unser Leben ganz in den Willen Gottes legen, wie es die Lübecker Märtyrer getan haben. Wir können aus dem Rahmen fallen, indem wir Menschen lieben, wie es Jesus getan hat. Der Geist Jesu, der Heilige Geist, ist der Geist der Menschenliebe. In der Pfingstpredigt sagte ich den Gefangenen der JVA Lübeck: „Wenn Sie das im Alltag hier im Gefängnis leben, fallen Sie aus dem Rahmen. Viele Menschen drinnen und draußen können das nicht glauben, dass das möglich ist. Sie haben den Rahmen festgelegt: Einmal kriminell, immer kriminell. Fallen Sie aus dem Rahmen als Menschenfreund. Der Geist Jesu Christi gibt ihnen die Kraft dazu. Und die Welt wird staunen, weil man Ihnen diese Sprache und dieses Leben nicht zutraut. Pfingsten sagt uns: Trauen wir uns.“

Gerhard Lüssing, Lübbecker Märtyrer | Foto: 4ximgefaengnis.de
Der Impuls stammt vom 65. Todestag der Lübecker Märtyrer.

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[1] vgl. Horst Krahl, Um zu leben. Gottesdienste und Predigten für die Fasten- und Osterzeit, Mainz 2002, S. 79
[2] Lübecker Nachrichten vom 2. Mai 2008
[3] Horst Krahl, ebd. S. 80
[4] Horst Krahl, ebd. S. 80
[5] Josef Schäfer, Wo seine Zeugen sterben ist sein Reich, Hamburg 1946, S. 48

[6] Else Pelke, Der Lübecker Christenprozeß 1943, Mainz 1974, S. 20
[7] Josef Schäfer, ebd. S. 17
[8] Beiträge zur Mainzer Fachtagung „Kirche im Strafvollzug“ 3.–7. März 2008, S. 8
[9] ebd. S. 13
[10] ebd.

 

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