Ein inhaftierter Jugendlicher fragt, ob ich als Gefängnisseelsorger schon immer „mega gläubisch“ gewesen sei. „Wieso arbeiten Sie im Knast?“ Solchen Fragen muss ich mich stets aussetzen. So leicht lässt sich das nicht beantworten. Bin ich noch „normalkatholisch“? Mein Werdegang und mein Glaubensweg haben sich gewandelt. Ich bin nicht mehr so katholisch wie in anderen Zeiten. Doch das versteht niemand von den Gefangenen. Katholisch und Evangelisch gibt es nur noch der Geschichte nach.
Im Jugendgefängnis gibt es niemanden mehr, der durch seine Sozialisation sich einer bestimmten Konfession zugehörig fühlt. Das ist längst Geschichte. Als Gefängnisseelsorger fragen wir nicht, welcher Konfession oder Religion jemand angehört. Die Fragen an mich beschäftigen mich. Wie bin ich zu dem geworden, der ich jetzt bin? Bin ich noch „katholisch“? Sicher nicht mehr wie in den Anfängen meiner Biografie. Eine traditionell-katholische Sozialisation habe ich durchlaufen: Kommunion, Firmung, Ministrant, Oberministrant, Katholische Junge Gemeinde und schließlich das Studium für den pastoralen Beruf. Es folgten Erfahrungen in verschiedenen Kirchengemeinden. Mehr oder weniger war ich im Studium bereits kritisch offen. Dieser mein Kindheits- und Jugendglaube veränderte sich im Ewachsenwerden drastisch.
Das Leben prägt
Mein Glaube wurde erwachsen und durch das konkrete Leben geprägt. Nicht zuletzt auch durch die Arbeit als Fachperson in der Entwicklungszusammenarbeit in Bolivien. Hier suchte ich nach dem befreiungstheologischen Ansatz, eine neue Art „Kirche zu sein”, der mich inzwischen überzeugte. Doch diesen Ansatz fand ich leider nicht in Bolivien. Vielmehr erlebte ich eine spanisch geprägte priesterzentrierte Kirche, die dem kirchlichen Erleben meiner Kindheit und Jugend sehr ähnelte. Immer mehr hinterfragte ich dieses System. Was ist das für ein Gott, den ich anbetete und dessen Nähe ich ausschließlich in den traditionellen Gebeten finden sollte?
Zurück in Deutschland arbeitete ich in einer „priesterlosen“ Gemeinde. Die Strukturen für die Vorbereitung zur Feierlichen Kommunion von Kindern und ihren Familien zu verändern, gelang und misslang. Der Kulturschock nach den Jahren in Südamerika ließ mich nicht mehr dort ankommen, wo ich einst aufgebrochen war. Ich suchte nach einem neuen Betätigungsfeld. Nach einer ersten Klinischen Seelsorgeausbildung landete ich schließlich im Jugendknast, einem Ort, an den ich nie gedacht hätte, einmal zu arbeiten.
Die Anfänge hinter Gittern als Katholischer Gefängnisseelsorger in Sachsen-Anhalt waren nicht einfach. Wie soll ich mit Jugendlichen Gottesdienst feiern, die bekenntnisfrei sind? Ich lernte einen anderen Sprachgebrauch und kontexuelle Rituale zu finden. Ich konnte mich nicht hinter den üblichen Formeln und Sätzen verstecken. Mein Glaube veränderte sich auf eine wieder neue Weise. Ich darf die Botschaft auf den Boden holen. Nicht theologisch argumentieren, sondern vom Leben her. Die Gefangenen und die Realität im Knast lehrten und lehren mich ein neues Verstehen.
Will ich das noch mittragen?
Bin ich noch katholisch? Ich glaube nicht, wenn ich die Skandale und den Reformstau der Katholischen Kirche sehe. Und doch arbeite ich weiterhin als Katholischer Gefängnisseelsorger in der staatlichen Einrichtung des Justizvollzuges. „Man muss nicht alles leben, was als katholisch daherkommt und als dieses gilt“, sagt ein Kollege aus Österreich. Nichtsdestotrotz kann und will ich die Lehre und so manche Tradition nicht weiter mittragen wollen. Ob ich für Veränderung kämpfen kann? Vielleicht im kleinen Rahmen an dem Ort, an dem ich bin. Das ist schon viel. Wer weiß, welche Entwicklung und welchen Einsichten ich weiter folgen werde. Entscheidend ist, dass ich nicht gefangen bin, obwohl ich im Gefängnis arbeite. In diesem Sinne bin ich “mega gläubisch”.
Michael King | JVA Herford