Ein Mann mit rotem Hut und einer Reisetasche fragt vor dem historischen Rathaus am Prinzipalmarkt der nordrhein-westfälischen Stadt Münster, wo der Friedenssaal sei. An diesem Ort findet am Sonntag die Preisverleihung des Ingeborg-Drewitz-Literaturpreises für Gefangene statt. Im Saal des westfälischen Friedens stellt sich heraus, der Mann im roten Hut ist der Schirmherr der Veranstaltung.
Maximilian Pollux heißt er und ist ein ehemaliger Knacki. 13 Jahre war er im Knast, erzählt er. „Wegen Drogendelikten und Drogenhandel“, fügt er hinzu. Schon vor der Strafmündigkeit sei er auffällig gewesen. Er hat die gesamte jugendliche Kriminalitäts-Karriere hinter sich: Sozialstunden, Jugendarrest und anschließend Haft. „Von heute auf morgen“ sei er nach Jahren entlassen worden und hatte nichts… Keine Bleibe, keinen Job und keinen Ansprechpartner, außer dem Bewährungshelfer. In Haft hätte er das Plakat mit der Ausschreibung des Ingeborg-Drewitz-Literaturpreise zum Thema Einsamkeit entdeckt. In dieser Zeit war er in Haft mit besonderen Sicherheitsmaßnahmen belegt gewesen. Er fing an zu schreiben und reichte den Text mit Erfolg bei der damaligen Gefangeneninitiative Dortmund ein. Heute ist es ihm eine Ehre, Schirmherr dieses Literaturpreises für Gefangene zu sein. „An einem Abend habe ich mich befähigt gefühlt einen Text in Absonderung der JVA Straubing zu schrieben. Die Jury hat damals entschieden, dass ich einer der Preisträger sein soll. Man schickt den Text aus dem Knast ins Nichts, weil man nicht weiß, ob eine Antwort kommen wird“, berichtet der jetzige Anti-Gewalt-Trainer Pollux.
Schuld kann „schmeichelhaft“ sein
„Ich will zeigen, dass vieles möglich ist. Ich habe nach der Einreichung des Textes in Haft angefangen Bücher zu schreiben“, meint er. Dankbar sei dem ehemaligen Drogendealer und Schriftsteller Hubertus Becker. der in der JVA Diez sechs Jahre einsaß und bei der Preisverleihung in Münster teilnimmt. Wie mit Menschen umgehen, die Schuld auf sich geladen haben? Wie verarbeitet man Schuldgefühle? Das zeigt in einem kleinen Experiment der Geschäftsführer von Chance e.V. in Münster, Rainer Wick. Er verschenkt kleine bunte Steine an die BesucherInnen zu Beginn der Veranstaltung. Die Reaktionen gehen von Handschmeichler bis zum Glückstein. Der kleine Stein symbolisiert für Wick allerdings die Schuld. „Sie kann durchaus schmeichelhaft sein, wenn man möglicherweise an ein Kavaliersdelikt denkt“, so der Geschäftsführer. Ein Störgefühl ist dieser Stein in der Gesäßtasche, wenn man sich daraufsetzt. So ähnlich ergeht es Menschen, die mit ihrer Schuld leben müssen.
Chance auf ungefilterten Einblick
Die Bürgermeisterin Maria Winkel (SPD) der Stadt Münster sagt in ihrem Grußwort: „Wir sind hier, um etwas Besonderes zu würdigen. Die Kraft des geschriebenen Wortes, das menschliche Schicksale durchdringt, Mauern überwindet und Freiheit schafft, zumindest die innere Freiheit“, sagt die ehrenamtlich Tätige. „Der Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis ehrt Menschen, deren Stimme sonst ungehört bleiben. Er gibt Gefangenen eine Plattform, einen Ansporn, ihre Gedanken und Gefühle auszudrücken. Und die Öffentlichkeit, die oft nicht gut über das Leben im Gefängnis informiert ist, oder auch gar nicht, bekommt die Chance auf einen ungefilterten Einblick“, schildert Winkel. „Gefängnis sind Orte der Isolation. Orte, die oft geprägt sich von Schuld, Reue und Strafe, aber auch der Resozialisierung und der Hoffnung“ führt die Bürgermeisterin aus. Sie hat selbst als Beirätin in der Justizvollzugsanstalt Münster mitgearbeitet. „Schreiben kann für Inhaftierte ein Rettungsanker werden. Es gibt ihnen die Möglichkeit eine Geschichte zu erzählen, Wunden aufzuzeigen, vielleicht zum Heilen und um Brücken in die Außenwelt zu bauen“, meint sie. Kreativität hat für Ingeborg Drewitz mit der inneren Haltung zu tun.
Geschichte des Literaturpreises
Der Literaturwissenschaftler Prof. Helmut Koch, damals Mitinitiator des Literaturpreises, hat die Schriftstellerin Ingeborg Drewitz persönlich gekannt. Im Interview erzählt er von den Anfängen. Die Kulturpolitikerin Drewitz absolvierte ihr Abitur 1941 an der Königin-Luise-Schule in Berlin-Friedenau und arbeitete zunächst in einem Betrieb. Danach nahm sie ein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie auf und promovierte am 20. April 1945 an der Friedrich-Wilhelms-Universität, der heutigen Humboldt-Universität zu Berlin. Als Autorin sah sie sich der Aufklärung verpflichtet und setzte sich mit der Nachkriegsgeschichte Deutschlands ebenso auseinander wie mit der gesellschaftlichen Stellung der Frau. Prof. Koch ist geprägt von der Befreiungstheologie Südamerikas, die mit Drewitz Gedanken stark verbunden sind. „Wir wollten die Gefangenliteratur in der Öffentlichkeit etablieren. Ich fragte Ingeborg als Schriftstellerin nach Geld, doch das hatte sie nicht. Sie unterstütze mich aber, den Literaturpreis für Gefangene 1988 zu begründen“, sagt der heutige 83-jährige. Ingeborg Drewitz starb 1986 sehr früh im Alter von 63 Jahren in Berlin an den Folgen eines Krebsleidens.
Eindringlich und schonungslos
Von ca. 200 Text-Einsendungen mit etwa 100 SchreiberInnen seitens der Gefangenen sind 17 PreisträgerInnen von der Jury ausgewählt worden. Die Texte müssen in Haft oder von ehemaligen Gefangenen geschrieben sein. Der Literaturpreis ist nicht dotiert, die Veröffentlichung in Form eines Buches über den Rhein-Mosel Verlag ist die Auszeichnung. Der erste Preisträger wird von Nicols Kessler begleitet. Sie war wissenschaftliche Hilfskraft bei Prof. Koch. Der Saal verstummt, die vorgelesenen persönlichen Worte des Inhaftierten treffen wie ein Schlag. Protokollartig gibt der Autor unter dem Pseudonym Rero W. wieder, was sein Leben ausmacht: Eindringlich, schonungslos ehrlich, resignativ und doch hoffnungsvoll. Nach 17 Jahren ist der „Ehemann und Eheverbrecher, Säufer und Raucher, Verurteilter und Schreibender“, so seine Worte, Freiheit entlassen worden. Der zweite Vortragende von der JVA Werl, Mario Wolf, bemängelt, dass er als jüdischer Gefangener keinen entsprechenden Seelsorger in Haft hat. Er legt in seinem Texten die aktuelle politische Lage in Israel und Palästina kritisch dar. „Wer trägt die Schuld an dieser Situation?“, fragt er. „Auch die israelische Regierung trägt dazu bei, dass die Lage eskaliert“, sagt der Gefangene aus Werl. Den Text habe er am 7. Oktober 2023 geschrieben. Eine Inhaftierte des Frauenvollzuges, der JVA Köln, wird von der Gefängnisseelsorgerin Dorothee Wortelkamp-M´Bay begleitet, die aus Schutzgründen ihr Gesicht vermummt äußert: „Auf ewig im Gefängnis. Ich war es, die es gemacht hat“, liest sie vor. „Doch bin ich nur noch ein ES?“, fragt sie klar und deutlich.
Nicht alle können Preis entgegennehmen
Der Titel des 12. Literaturpreises „Tinnitus der Seele“ stammt von der Preisträgerin Moro. Manche der Inhaftierte sind vor Ort im Friedenssaal und nehmen die Preisplastik mit der Aufschrift „Literaturpreis 2024“ persönlich in Empfang. Andere werden von Stellvertreterinnen entgegengenommen. Einer der Gefangenen ist mit seiner Psychologin in einem „begleiteten Ausgang“ angereist. Andere mit in einer Ausführung durch zwei Bedienstete in Zivil. Den nicht Anwesenden wird der Preis in die Justizvollzugsanstalt mit dem veröffentlichten Buch zugesandt. Der Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis wird alle drei Jahre verliehen. Der Preis bereichert die deutsche Literatur um einen bemerkenswerten Aspekt. „Die Randliteratur ist die Mitte. Sie schreibt von existenziellen Gegebenheiten, von Schuld und Fehlern und von Menschen, die sie reflektieren“, sagt ein Besucher beim anschließenden Empfang in Foyer des Rathauses in Münster.
Michael King