Einerseits scheint jeder Tag eine neue unheilvolle Nachricht zu bringen für diese unsere Welt. Andererseits ist das alles auch nichts Neues. Lang hat sich abgezeichnet, wie die Demokratie Schaden nimmt und zunehmend Präsidenten zu Diktatoren werden. Darin sind die Worte Jesu im Evangelium nur scheinbar überkommen und inzwischen unbrauchbar, sie offenbaren in all dem Chaos dessen nicht absolut sein und verweisen auf ein neues Miteinander in der Kraft des Trotzdem.
Wie sehen wir einander an? Das Ergebnis der Bundestagswahl offenbart tiefe Zerwürfnisse in unserem Land. Der Wahlkampf war geprägt von gegenseitigen Beschimpfungen, unversöhnlich verfangen in der je eigenen Ideologie. Und manche treiben dies weiter, als wäre noch Wahlkampf. Die Heftigkeit dieser Auseinandersetzungen zeigt, wie sehr Besorgnisse und Ängste die Menschen bewegen. Das betrifft nicht nur die politische Wirklichkeit, sondern auch die persönliche; in Partnerschaften und Familien geraten Gespräche, wenn sie politisch werden, schnell in Sackgassen.

Tür eines Hauses in der Innenstadt von Herford.
Es geht um uns selbst
Manche sprechen deshalb gar nicht mehr miteinander über das, was doch die Herzen so bewegt. Und es geht um viel: die nahen Kriege, die Herausforderungen in Migration und Integration, vor allem aber die zunehmende Bedrohung demokratischer Grundwerte. Da kann einem angst und bange werden. Brandmauern mögen einen Flächenbrand verhindern, wo sie vor menschenverachtenden Parolen und Ideologien schützen. Wo sie aber zwischen Menschen gebaut werden, verhindern sie Versöhnung und neue Wege des Miteinanders. Geht es doch um uns selbst, es gibt keine anderen Menschen als die, die wir nun mal sind, und es gibt kein anderes Miteinander als das, wie es im Moment ist. Wenn wir diese Wirklichkeit verändern wollen, müssen wir sie ehrlich anschauen mit der Bereitschaft, uns selbst zu ändern.
Veränderung beginnt bei jedem selbst
Im Evangelium wird angeraten, vor dem Blick in die Welt zunächst die eigenen Sehgewohnheiten zu überprüfen, ob dort nicht irgendwelche Balken die Sicht versperren. „Warum siehst du den Splitter im Auge des anderen, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht?“, fragt Jesus. Dieses Gleichnis ist sprichwörtlich geworden, weist es doch auf die naheliegende menschliche Eigenart hin, eher andere als sich selbst kritisch zu beurteilen. Heute geht das schnell über Kommentare in den sozialen Medien. Jesu Grundsatz aber ist: „Richtet nicht“. Haltungen, die böse, also lebensfeindlich sind wie Gier, Hass, Lüge und Unterdrückung sind als solche anzusehen und zu benennen, wissend aber, dass diese menschlich sind und auch mehr oder weniger in einem selbst vorkommen, müssen wir einander nicht im Menschsein abwerten. Jesus sagt, dass Veränderung immer in einem selber beginnen muss. Wenn mir einmal klar wird, welche Balken mir die Sicht versperren, kann ich beginnen, sie aus dem Weg zu räumen. Sie werden nicht einfach verschwinden, aber ich kann dafür sorgen, dass mein Blick an ihnen vorbei wieder ein freier, ein zutrauender wird, und das zugleich in mich selbst hinein wie zur anderen Person hinüber. Ich kann beginnen, mit anderen so umzugehen, wie ich es mir für mich selbst wünsche.
In Demut neuen Blick ermöglichen
Nun ist auch klar: was so einleuchtend klingt, ist noch lange nicht gelebte Praxis. Naheliegend ist das gewohnte sich Verbarrikadieren in den je eigenen Ansichten, schließlich haben die Balken im Kopf auch eine gewisse Sicherheit für die eigene Weltdeutung gegeben. Vielleicht ist mir auch der eine oder andere Balken gar nicht als solcher bewusst und ich denke, es müsse so sein oder es gäbe keine Alternative. So braucht es immer wieder das Innehalten und möglichst freundliche Hinschauen, besonders in Krisenzeiten wie diesen. Christlich betrachtet müssen wir weder diese Welt noch uns selbst absolut setzen, da gibt es Wüsten- und Dürrezeiten, da geschehen Fehler und wir verrennen uns in Sackgassen. Doch wenn wir als Christen an die Menschwerdung Gottes glauben, heißt das nicht, dass wir in all dieser menschlichen Wirklichkeit auch Gehaltene sind? Auf dieser Grundlage lassen sich die Splitter und Balken mit ein wenig Demut und einer gewissen Portion Versöhnungsbereitschaft ertragen, sie müssen uns nicht mehr im Weg liegen, einander anzusehen. Und wenn dies doch geschieht, wissen wir, dass sie nicht fest sind – mit Freundlichkeit wird ein neuer Blick möglich.
Christoph Kunz | Lukas 6, 39-45