Vor mir liegt eine kleine Holztafel, zehn mal zehn Zentimeter groß. In deren Mitte ist der Umriss einer Krone handgefertigt eingebrannt. Die Wörter „Würde“ und „unantastbar“ sind auf gleicher Weise eingebrannt. Hergestellt wurde sie wie viele andere solcher Holztafeln von Inhaftierten in der Arbeitstherapie. Eine Tafel steht bei mir im Wohnzimmer auf einer Kommode vor einem Blumenstrauß. Sie will meine Familie, meine Gäste und mich mahnen zum Einsatz für die Würde eines jeden Menschen.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet Artikel 1 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes. „Du (Gott) hast ihn (den Menschen) nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt“, heißt es in Psalm 8, Vers 6).
Allein als Mensch würdig
In der christlichen Theologie lässt sich die Unantastbarkeit der Menschenwürde in der Personalität des Menschen begründen. Jeder Mensch ist ethisches Subjekt, das heißt: Er muss Verantwortung übernehmen für das, was er tut und lässt. Darin liegt seine gottgegebene Freiheit, darin zeigt sich seine Würde. Die Menschenwürde lässt sich trinitarisch begründen. In der Schöpfung durch Gott Vater konstituiert sich die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die Menschwerdung Jesu konstituiert die Gleichheit aller Menschen. Die Geistsendung, die Ausgießung der Gaben des Heiligen Geistes über alle Menschen begründet die Befreiung aller Menschen von Ungerechtigkeit.
Die Menschenwürde ist das erste und wichtigste Grundrecht eines jeden Menschen. Diese Würde kommt jedem Menschen allein dadurch zu, dass er Mensch ist. Kein Mensch, keine Glaubensgemeinschaft, keine politische Partei und kein Staat dürfen die Menschenwürde eines anderen Menschen in Frage stellen. Von diesem ersten Grundrecht leiten sich die weiteren Grundrechte ab, etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Gewissensfreiheit, das Recht freie Meinungsäußerung, das Recht auf Versammlungsfreiheit, das Recht auf Religionsfreiheit, das Recht auf freie Wahl der Lebensform. Hinzu kommen das Recht auf Wohnung, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Arbeit.
Entfaltung mit gleichen Chancen
Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist heute leider nicht mehr unumstritten in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft. Vielleicht war sie es auch in früheren Zeiten nicht. Die Menschenrechte sind eine Errungenschaft der Freiheitskämpfe seit der Zeit der Aufklärung im 18. Und im 19 Jahrhundert, etwa in der „Bill of Rights“ 1776 oder in der „Declaration des droits de l’homme et du citoyen“ von 1789. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Vereinten Nationen 1948 die Charta der Menschenrechte beschlossen und verkündet. Begegne ich einem Menschen, ganz egal wo und unter welchen Umständen, steht vor mir ein Abbild Gottes, ein Bruder oder eine Schwester, mit derselben göttlichen oder königlichen Würde, wie sie auch mir verliehen ist, einfach aufgrund der Tatsache, dass wir Menschen sind. Unabhängig von ihrem Aussehen, ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihres Intelligenzquotienten, ihres Religionsbekenntnisses, ihrer politischen Einstellung und ihrer sexuellen Orientierung sind alle Menschen gleich. Jeder Mensch ist mit Fähigkeiten ausgestattet, die er zum Wohle der Allgemeinheit einsetzen darf und einsetzen soll. Alle Menschen benötigen zu ihrer persönlichen Entfaltung der gleichen Chancen. Wo diese Chancengleichheit nicht gegeben ist, ist es Aufgabe der Familie, der Gesellschaft, der Politik, diese Chancengleichheit zu ermöglichen.
Unsichtbare Kronen: Arbeit
Im vergangenen Jahr hat die Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB), eine Ausstellung und eine Gottesdiensthilfe zum Thema „Die unsichtbaren Kronen. Eine Huldigung an die wertvolle Arbeit“ herausgebracht. Fünf verschiedene prekär arbeitende Menschen werden vorgestellt: ein Paketzusteller, ein Mitarbeiter in einem Callcenter, eine Mitarbeiterin in einem ambulanten Pflegedienst, eine Kassiererin in einem Supermarkt und eine Reinigungskraft. Ihnen gemeinsam ist die Würde, die ihnen als Mensch eigen ist und die sie trotz der oft schweren Arbeit ausstrahlen. Im Juni dieses Jahres endet die Aktion „Faires Paket/wertvoll arbeiten“ der KAB. Im Fokus dieser Aktion stehen die oft prekären Arbeitsverhältnisse der Paket-ZustellerInnen*. Ziel dieser Aktion ist u. a. das Bewusstmachen der Situation bei den Paketdiensten. Zehn und mehr Stunden arbeiten, die Pakete, die oft mehr als 20 kg wiegen, in die oberen Stockwerke tragen, oft ohne Aufzug. Wie reagiere ich, wenn ich einem solchen, in einem prekären Arbeitsverhältnis stehenden Menschen begegne. Erkenne ich seine Arbeit an, lächle ich ihn freundlich an, gebe ich ihm ein angemessenes Trinkgeld? Bestelle ich meine Kleidung, meine Lebensmittel, meine Elektrogeräte überwiegend oder ausschließlich im Internet? Nehme ich die Würde des prekär Beschäftigten wahr, die er trotz der unwürdigen Arbeitsverhältnisse und Arbeitsbedingungen immer noch ausstrahlt?
Gefangene respektvoll behandeln
Szenenwechsel. Ich habe siebeneinhalb Jahre als Seelsorger in der Justizvollzugsanstalt in Köln-Ossendorf gearbeitet. Ich bin in diese Tätigkeit hineingeraten, weil sie mich gereizt hat, ohne mich vorher gründlich mit den Lebensbedingungen der Inhaftierten und den Arbeitsbedingungen des Gefängnisseelsorgers auseinanderzusetzen. Zwei zweiwöchige Praktika waren meine Vorbereitung, in denen ich meine Eindrücke mit den Seelsorgern besprechen konnte. Die Gefangenen begegneten mir mit Neugier und Offenheit. In den ersten Monaten musste ich mich in das hierarchische System im Justizvollzug einfinden. Ich spürte schnell, dass ich in diesem System schnell an Grenzen stoßen würde, wenn ich den Gefangenen menschlich und freundlich begegnen wollte. Ich nahm die Not vieler Inhaftierter wahr, die von ihren Familien getrennt waren, die nicht ungehindert mit ihren Angehörigen und Freunden kommunizieren konnten, die für jedes Anliegen einen Antrag schreiben mussten, die – wenn Untersuchungshaft – ihre meist Zweimannzelle nur für die tägliche Freistunde oder zweimal in der Woche zum Duschen verlassen durften. Ich musste lernen, dass ich in diesem System den Gefangenen gegenüber nicht großzügig sein durfte, wenn ich nicht mit Sicherheit und Ordnung in Konflikt geraten oder von den Gefangenen ausgenutzt werden wollte.
Ich wollte den Inhaftierten auf Augenhöhe begegnen, was allerdings nicht wirklich gelingen konnte, denn ich hatte einen Schlüssel, sie nicht. Ich wollte in den Inhaftierten den Menschen sehen, nicht den Mörder, Vergewaltiger, Brandstifter, Drogendealer, Betrüger oder Dieb. Ich habe die Inhaftierten gerne in ihrem Haftraum besucht, weil ich kennenlernen wollte, wie sie sich unter den Bedingungen einer Justizvollzugsanstalt eingerichtet haben. Ich habe gerne mit ihnen auf Zelle einen Kaffee getrunken. Ich habe im Laufe der Jahre für jedes Haft-Haus, für das ich zuständig war, eine Gesprächsgruppe eingerichtet, um sie einmal in der Woche für anderthalb Stunden aus der Zelle zu holen und mit ihnen im Gemeinschaftsraum der Seelsorge über Gott und die Welt zu sprechen und dabei einen Tee oder Kaffee zu trinken und Kekse zu knabbern.
Im Einzelgespräch habe ich den Gefangenen gerne nach ihren oder seinen Stärken gefragt, nach dem, was sie oder er draußen gerne getan hat, um das Gute in ihr oder ihm in Erinnerung zu rufen. Ich wollte in jedem inhaftierten Menschen das Ebenbild Gottes sehen. Ich war und bin mir sicher: In der Haft dürfen die Menschen nicht ihre von Gott verliehene Menschenwürde verlieren. Jede und jeder Gefangene verdient Respekt, Ihre Menschenwürde zu achten gebietet mir der christliche Glaube. Deshalb habe ich etwa nie eine Haftraumtüre geöffnet, ohne vorher anzuklopfen und die Antwort abzuwarten. Der Alltag im Justizvollzug erweckte bei mir den Eindruck, dass die Menschenwürde oft mit Füßen getreten wird. Es scheint, als ob der Staat und der staatliche Justizvollzug sich an den Inhaftierten rächen dafür wollten, dass sie ein Strafgesetz missachtet und ihrem Opfer Schaden zugefügt haben. Deshalb brauche man die Gefangenen nicht respektvoll zu behandeln. Resozialisierung ist das Ziel des Strafvollzugs. So steht es auf dem Papier der Strafvollzugsgesetze. In der Haft werden die Inhaftierten nicht auf ein Leben in Freiheit ohne Straftaten vorbereitet. Es gibt viel zu wenig SozialarbeiterInnen, PsychologInnen, TherapeutInnen, FreizeitbeamtInnen. Die Rückfallquote im geschlossenen Vollzug zeigt, dass etwa die Hälfte der Haftentlassenen nach einiger Zeit wieder straffällig werden. Ein menschenwürdiger Vollzug scheint ein Traum zu sein. Wegsperren verstößt gegen die unantastbare Würde eines jeden Menschen. Warum ist der offene Vollzug nicht die Regel, sondern immer noch die Ausnahme.
Inklusion von Menschen mit Behinderung
Eine weitere Personengruppe, bei denen oft gegen das Gebot des menschenwürdigen Umgangs verstoßen wird, sind die behinderten Menschen. Wie lange hat es gedauert, bis Staat und Gesellschaft die Inklusion behinderter Menschen als Ziel deklariert haben! Wie viele körperlich behinderte Menschen können immer noch nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben, weil sie nicht in den Bus kommen, weil es keinen Aufzug gibt, weil die Zugtüre nicht auf dem gleichen Niveau öffnet wie der Bahnsteig. Barrierefreiheit ist noch lange nicht verwirklicht. Ich bin Vater eines geistig behinderten jungen Mannes, der in einer beschützenden Werkstatt für Behinderte arbeitet. Leider muss auch die Werkstatt wirtschaftlich arbeiten, die oft sehr einfachen Tätigkeiten müssen Gewinn abwerfen.
Gewiss versuchen die Mitarbeitenden, nach Möglichkeit den Möglichkeiten und Fähigkeiten der behinderten Menschen gerecht zu werden. Aber es gelingt nicht immer. Wenn wir Eltern nicht immer wieder das Gespräch mit den Verantwortlichen suchen, damit er eine Tätigkeit ausübt, die ihm Spaß macht, wo er seine Fähigkeiten einsetzen kann, gerät unser Sohn schnell ins Abseits, weil er die geforderte Leistung nicht bringt. Die Entlohnung ist äußerst dürftig, etwa ein Euro netto pro Stunde. Damit er einigermaßen gut leben kann, erhält er vom überörtlichen Sozialhilfeträger eine Aufstockung. Unser Sohn ist ein fröhlicher, kontaktfreudiger junger Mann. Er strahlt eine innere Zufriedenheit aus. Viele Menschen mögen ihn deshalb. Durch ihn scheint die Menschenfreundlichkeit Gottes, eine königliche Würde.
Es bleibt viel zu tun
Ich könnte weitere Personengruppen nennen, denen ein menschenwürdiger Umgang vorenthalten wird, etwa den Flüchtlingen und Asylbewerbern oder denjenigen Menschen, die nicht deutsch aussehen, denen man die Herkunft aus einem anderen Erdteil ansieht. Jeder Mensch ist ein Abbild Gottes. Jedem Menschen kommt eine unveräußerliche Würde zu. Jeder Mensch hat das Recht auf Gleichberechtigung und Gleichbehandlung. Jeder Mensch hat das Recht, nach seinen Fähigkeiten und Stärken beurteilt zu werden. Jeder Mensch hat das Recht auf Chancengleichheit, auf Bildung, auf Respekt vor seiner Persönlichkeit. Jeder Mensch hat das Recht auf angemessene und auskömmliche Entlohnung für seine Arbeit. Bis das Leben aller Menschen der Menschenwürde entspricht, bleibt noch viel zu tun.
Robert Eiteneuer