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Diversitäts-Studientagung im hessischen Fulda eröffnet

7. Oktober 2024

Zum ersten Mal in der Geschichte der Gefängnisseelsorge wird „Diversität im Justizvollzug“ in Bezug auf die geschlechtliche Identität und der sexuellen Orientierung in den Mittelpunkt gerückt. Die Themen werden sichtbar gemacht, die in der Katholischen Kirche und in der Gesellschaft in den letzten Jahren schon diskutiert wurden und vielleicht für mehr Sensibilität für die Vielfalt der Menschen gesorgt haben. Bundesweit treffen sich dazu 45 GefängnisseelsorgerInnen im Bonifatiushaus in Fulda.

 

Bunt geht es in den Gefängnissen eher nicht zu. Justizvollzug kennt ausschließlich das binäre System von Mann und Frau. GefängnisseelsorgerInnen* arbeiten an einem homophoben, queerfeindlichen und angeblich asexuellen Ort hinter den Mauern. Wie ist das, wenn Menschen, die sich in ihrer (Geschlechts)Identität anders verstehen, inhaftiert werden? Wie ist es, im Gefängnis seine Sexualität zu leben? Wie die Kirchen ethisch und “moralisch” zum “Anders-sein” stehen, ist oft widersprüchlich. Weil Sexualität individuell abgespalten werden muss und die Thematik Sexualität im Vollzug offiziell ausgeblendet wird, finden alle Formen gelebter sozialer Sexualität mehr oder weniger verdeckt statt. Ganz zu schweigen von der geschlechtlichen Identität, die nach wie vor weder bei Bediensteten noch bei Gefangenen thematisiert wird.

Vier „Fälle“ in Hessen

Durch eine Verobjektivierung des weiblichen und des männlichen Körpers in Form von Postern an den Zellenwänden, Pornografie und einer starken Präsenz sexualitätsbezogener Gesprächsinhalte drückt sich der entfremdete Umgang mit den eigenen sexuellen Bedürfnissen aus. Das Dilemma besteht in der Allgegenwärtigkeit von Sexualität im Gefängnisalltag und der stark eingeschränkten Befriedigung und Zurückhaltung seiner Identität und letztlich erzwungenen Milieuanpassung. Daraus erwachsen Spannungen, Frustrationen, Aggressionen und sexualisierte Gewaltfantasien sowie Witze über das Anders-Sein. Die Katholische Kirche ist trotz der Einrichtung von Arbeitskreisen zur queersensiblen Pastoral in mehreren Bistümern ein Ort der Diskriminierung anderer Lebensweisen und Orientierungen.

Der Auftakt dieser Tagung wird durch mehrere Grußworte eingeleitet. Der zuständige Mitarbeiter des hessischen Justizministeriums von der Abteilung IV, Dr. Alexander Böhmer betont, dass bereits seit einigen Jahren die Weichen für eine individuelle Behandlung strafffällig gewordener Menschen in Bezug auf ihre geschlechtliche Identität gewährleistet wird. „Doch es gibt keine allgemeine Lösung. Inwieweit uns das neue Selbstbestimmungsgesetz neue Herausforderungen auferlegt, wird sich zeigen“, sagt Böhmer. Es gäbe in Hessen zur Zeit vier „Fälle“ von Menschen, die es betrifft. „Von Fällen zu sprechen ist nicht gut, aber wir haben den Menschen im Blick“, führt Böhmer aus.

Vielfalt pur

Domkapitular Thomas Renze, der für die Pastoral, Bildung und Kultur im Bistum Fulda zuständig ist, zitiert den Römerbrief. Gefängnisseelsorge sei keine Gefangenenseelsorge, sondern auch für die Bediensteten zuständig. Es gilt die Hoffnung weiterzugeben entgegen aller Hoffnungslosigkeit. Renze gedenkt den Menschen des brutalen Überfalls der Hamas auf Israel am 7. Oktober. Mehr als 1.200 Menschen starben. Gefängnisseelsorge ist konfrontiert mit angeblich hoffnungslosen Biografien. Sie wären oft die einzigen, die an ein Änderungspotenzial der Menschen glaube. Carsten Schraml, stellvertretender Vorsitzender der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland und Gefängnisseelsorger der JVA Rheinbach, erzählt aus seinem vielfältigen Leben. Der Name Carsten sei aus Norddeutschland, weil er in Lübeck geboren wurde. Sein Nachname Schraml dagegen komme aus dem Süddeutschen. Vielfältige Dimensionen kann das Leben eines Menschen ausmachen, von Geburt an. Er überreicht einen gehäkelten Hasen, der im Jugendvollzug der Berliner JVA Plötzensee von jugendlichen Männern gefertigt wird. Yvonne Radetzki von der Bundesvereinigung der AnstaltsleiterInnen bvaj blickt auf die noch offenen Fragen des Justizvollzuges bei Menschen, die sich als „divers“ verstehen. Ein gelungener Auftakt mit musikalischen Darbietungen ist eröffnet.

Bipolare Spannweite

„Welche Anrede verwende ich?“, ist die Nachfrage von TeilnehmerInnen zur gendergerechten Sprache. Sage ich „liebe Menschen oder liebe Anwesende?“ Letztlich gibt es keine klaren Antworten. Wichtig ist, dass man sensibel ist und bleibt. Prof. Dr. Thomas Hieke von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz zeigt in seinem Referat zu Diversität in der Bibel,  „bipolare“ Punkte auf, in deren Zwischenraum es noch viel anderes herauszulesen gäbe. Anhand von Genesis 1 erläutert Hieke: „Gott schuf den Menschen als Mann und Frau – etwas anderes gibt es nicht. Sie sollen sich vermehren – nur dazu ist die Sexualität da. Das kursiv Gedruckte steht nicht in der Bibel, wird aber meist hinzugedichtet. Die neue Einheitsübersetzung hat Gen 1,27 mit „männlich und weiblich“ wiedergegeben, denn es wird im hebräischen Text nur festgestellt, dass es beim Menschen Männliches und Weibliches gibt. Wenn sich ein Männliches und ein Weibliches paaren, gibt es Nachkommen. Diese einfache Alltagsbeobachtung wird bei Gott als Schöpfer verankert. Hier werden weder die Ehe von Mann und Frau als ausschließliche Form noch die Zeugung von Nachkommenschaft als ausschließlicher Zweck von Sexualität normativ festgelegt. Der Text liefert keine Definitionen, sondern staunt darüber, wie wunderbar Gott die Welt gemacht hat“, so Hieke.

Wissenschaftlicher Blick

Kommend von der Forschung beschreibt Prof.in Dr.in Ulrike Ernst-Auga theologische Anthropologie und Ethik im Kontext von nichtbinären und diversen „Identitäten“ und Beziehungen. Verschiedene Menschen in der Geschichte haben unterschiedliche oder auf einander sich aufbauende Theorien zur Geschlechterfrage, Nationalismen und Kulturen entwickelt. Sie sieht den Begriff der „Identität“ kritisch und nimmt einen Gegenpol zu dem Alttestamentler Hieke ein. Um epistemische Gewalt zu vermeiden, sollte von fluiden Zugehörigkeiten gesprochen werden. Intersektionalen Kategorien wie  „Geschlecht“, „Race“, „Nation“, „Klasse“, etc. sowie „Religion“ sind „diskursive, intersektionale, performative Kategorien der Wissensproduktion“, erklärt Ernst-Auga.

Trans-Inhaftierte in Haft

Männer und Frauen unterliegen im Justizvollzug einer Trennung zwischen den Geschlechtern. Dieses sogenannte Trennungsprinzip wird durch den grundrechtlichen Schutz des intim- und Sexualbereichs gerechtfertigt. Das Selbstbestimmungsgesetz, das am 1. November 2024 in Kraft tritt, vereinfacht die Regelung zur Änderung des rechtlichen Geschlechtseintrages und des Vornamens (transgeschlechtlich, non binär oder intergeschlechtlich). Ziel des Gesetzes ist, die personenstandsrechtliche Geschlechtszuordnung von der Einschätzung dritter Personen zu lösen. Im alten Transsexuellengesetz waren dazu psychologisches Gutachten und eine zweijährige Erprobungsphase notwendig. Das neue Gesetz trifft keine Regelungen über den Strafvollzug, da die Länder dafür zuständig sind. Es gibt eine hohe Stigmatisierung von Transgender im Gefängnis. Sie gehören zur vulnerablen Gruppe innerhalb und außerhalb des Gefängnisses. Geschlechtertheoretisch sind Trans Personen von cis Frauen als „at risk“ (gefährdet) vor sexueller Gewalt und von Trans-Frauen als „risky“, sprich als gefährlich eingestuft. Die Referentin Prof.in Dr.in Anke Neuber von der Professur für Soziologie in der Sozialen Arbeit an der Hochschule Hannover, führte Interviews mit Transmenschen in Haft. Der überwiegendes Teil erzählt von einem langwierigen Kampf beispielsweise für Hilfsmittel wie Nagellack oder Schminke. Der Vollzug hat das berechtigte Interesse, die Menschen zu schützen. Er isoliert letztlich Trans-Menschen aus Angst vor einer Gefährdung oder dem Schutz von Mithäftlingen aufgrund ihrer angeblichen „Gefährlichkeit“. Es wird einerseits an der binären Logik festgehalten, die jedoch durch die Geschlechtervielfalt im Vollzug in Bewegung gerät.

 Michael King

 

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