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Im Umgang mit Häftlingen ist Pragmatismus angesagt

17. April 2019

„Es ist Irrsinn, bei 850 Gefangenen keine Schule zu haben“, sagte Reiner Spiegel, Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Düsseldorf-Ratingen, bei einem Gesprächsabend. Pfarrer Reiner Spiegel ist seit 1984 Gefängnisseelsorger. In diesen 34 Jahren hat er die unterschiedlichsten Charaktere kennengelernt und viele Schicksale gesehen. Spiegel war zu Gast in Erkrath und berichtete bei Gottesdiensten in St. Johannes und St. Mariae Himmelfahrt in Unterbach über seine Arbeit. Dazu gab es einen Gesprächsabend im Gemeindezentrum. Ein beeindruckender Auftritt eines Gefängnisseelsorgers. 

„Die Bibel hat eine völlig andere Sicht auf viele Dinge als wir heute“ beginnt Spiegel. Dort werde nie gefragt, warum jemand in Gefangenschaft sei. Auch werde nie gefragt nach Reue, Buße oder Umkehr. Spiegel zitiert aus Jesaja Kapitel 42: „Der Prophet sieht die Aufgabe von Gottes Sohn darin, zu denen zu gehen, die im Abseits sind“, fasst er zusammen. Das war es dann aber auch mit Spiritualität. Reiner Spiegel ist keiner, der an unpassender Stelle über Gott philosophiert. Im Umgang mit Häftlingen ist Pragmatismus gefragt; nicht jeder könnte diesen Job machen. Reiner Spiegel nimmt die Menschen so, wie sie sind und versucht, auf ihre Sorgen einzugehen. „Jesus hat oft gefragt: Was wollt ihr?“ Es sei doch klar, dass der Blinde wieder sehen und der Lahme wieder laufen will. „Aber es ist eine Frage der Menschenwürde und der Achtung vor der Person.“ In der neuen Justizvollzugsanstalt Düsseldorf-Ratingen sitzen rund 850 Personen ein, die aus unterschiedlichen Milieus, Nationen und kulturellen Hintergründen stammen. Pfarrer Spiegel ist für alle da. „Mit rund 60 ehrenamtlichen Seelsorgern halten wir gewissermaßen die Tür nach draußen offen.“ Das Gesprächsangebot ist vertraulich und freiwillig. „Aber wenn jemand einen Antrag stellt, ist er am nächsten Tag bei uns auf dem Tisch“, versichert Spiegel.

Wenn sich viele Anträge stapeln, gehe er einfach mal zwei Stunden lang durch die Flure und frage nach, worum es gehe. Wenn es ein größeres Problem sei, werde gleich ein Gesprächstermin vereinbart. Er werde auch oft ohne Antrag angesprochen, weil ihn nach so langer Zeit die meisten kennen. „Ich habe in der Szene einen Namen“, sagt der noch 65-Jährige. Die Gespräche beginnen ganz unterschiedlich; mal wolle jemand von seiner schwierigen Beziehung erzählen, mal von seiner Vergangenheit. „Manchmal fragt auch einer einfach nur ,Hamse mal nen Kuli für mich‘, als Einstieg.“ Ein Häftling habe ihn einfach nur angebrüllt. Spiegel habe gewartet, bis dieser außer Puste war und dann gesagt, er komme in einer halben Stunde wieder. „Dem stand einfach alles bis hier“, erzählt Reiner Spiegel.

Hinter allem stehe die Frage nach dem Sinn: „Wie soll es weitergehen, wenn ich wieder draußen bin? Das Misstrauen sich selbst gegenüber ist groß“, weiß Spiegel. Oft seien Straftaten das Ergebnis fehlenden Selbstwertgefühls. Und fast alle Inhaftierten seien in einer Form von Abhängigkeit gefangen – Spielsucht, Alkoholismus oder oft auch illegale Drogen. „Die Versuchung ist groß, gleich nach der Haft wieder rückfällig zu werden“, sagt Spiegel. Das liege auch daran, dass man kaum etwas aus dem Knast mitnehmen könne. „Es ist Irrsinn, bei 850 Menschen keine Schule zu haben“. Es gebe einen Vorbereitungskursus auf den Hauptschulabschluss oder Zertifikate, die man in einer Lehre vorlegen könne, aber keine echte Ausbildung vor Ort.

Nur wenn jemand einen konfessionellen Seelsorger seiner Kultur anfordere, müsse man dem nachkommen, ansonsten gehe Spiegel zu allen. „Unser katholischer Gottesdienst ist immer voll, wir haben auch Muslime im Kirchenchor. Einer hat mal bei seiner Entlassung zu mir gesagt: ,Sie haben mich zu einem guten Muslim gemacht‘“. Im Gefängnis sei man wie auf einer Insel, außerhalb der Gesellschaft. „Es muss immer noch jemanden geben, der zu diesen Menschen hingeht“, sagt Reiner Spiegel.

Thomas Peter | Rheinische Post Online

 

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