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Neue Dimensionen für jugendliche Gefangene

30. Oktober 2020

Seit 12 Jahren betreut Thomas Marin als Seelsorger junge Häftlinge in Berliner Strafanstalten. Foto: Erzbistum Berlin.

Junge Häftlinge leiden unter den Beschränkungen wegen der Corona-Pandemie. Arbeitsmöglichkeiten, Besuche und der Gottesdienst würden wegfallen, sagt Diakon Thomas Marin. Als Seelsorger steht er den Inhaftierten zur Seite. Er arbeitet im Jugendstrafvollzug der Justizvollzugsanstalt Plötzensee in Berlin. Ein geschichtsträchtiger Ort mit Gedenkstätte für die Menschen, die dort in der in der Zeit des Nationalsozialismus hingerichtet wurden.

Im Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur stellt sich der Gefängnisseelsorger den Fragen von Thorsten Jabs. Seine Geschichten aus dem Gefängnis hat Thomas Marin in seinen Büchern „Jailbirds“ und „Haftnotizen“ festgehalten. Er ist katholischer Diakon und arbeitet als Seelsorger in der Jugendstrafanstalt Berlin und der Justizvollzugsanstalt Plötzensee. Über die Bedeutung von Gott im Gefängnis und natürlich auch über die aktuelle Situation angesichts der Coronakrise erzählt der erfahrene Geistliche.

Herr Marin, An Ostern konnten die Menschen in diesem Jahr nicht zu Gottesdiensten gehen. Wie haben Sie den Feiertag mit den Jugendlichen im Gefängnis verbracht?

Mir persönlich ging es natürlich so wie den Leuten draußen auch, dass ich an den feierlichsten Gottesdiensten selbst nicht teilnehmen konnte. Im Gefängnis mussten wir wie schon in den letzten Wochen unsere sonst übliche Gottesdienstordnung natürlich verändern, Gottesdienste sind auch im Knast nicht erlaubt. Wir haben deshalb eine kleine Form von Gruppenandachten gehalten, das heißt, mit maximal fünf Gefangenen dürfen wir etwas unternehmen. Wir sind dazu in die Häuser gegangen – „wir“ heißt, meine evangelische Kollegin Heike Richter und ich.

Viele Einschränkungen durch die Corona-Krise

Und wie war Ihr Eindruck, wie kam das an?

Die Jungs sind natürlich alle sehr bewegt durch die Gesamtsituation. Sie sind sehr betroffen davon, weil sie jetzt vielen Einschränkungen unterliegen. Der Gottesdienst, der wegfällt, ist ja nur eine von vielen Sachen. Die Arbeitsmöglichkeiten fallen zwar nicht weg, sind aber eingeschränkt, Besuche gibt es seit inzwischen vier Wochen nicht mehr. Das belastet die Gefangenen sehr, und das ist natürlich das Hauptgesprächsthema: Wie lange geht das noch, was passiert da noch, warum sind wir so betroffen davon, wo wir doch vom Alter her gar nicht in den Hauptrisikogruppen liegen und so weiter?

Als Seelsorger sind Sie ja täglich mit den Sorgen und Ängsten der Häftlinge beschäftigt. Was sind das für Probleme – Sie haben jetzt einmal schon ein paar in Zeiten der Corona-Krise geschildert –, mit denen die Jugendlichen zu Ihnen kommen?

Wenn man draußen mit Leuten über die Gefangenen spricht, wird immer zuerst vom Delikt her gedacht. Aber junge Menschen, die im Gefängnis sind, sind in den allermeisten Belangen ja gar nicht viel anders als junge Menschen draußen. Sie haben alle die gleichen Sehnsüchte und Sorgen, haben das Bedürfnis, mit den Menschen zusammen zu sein, die ihnen wichtig sind, von denen sie durch die Haft ja schon abgeschnitten sind, die sie jetzt nicht mal bei Besuchen sehen können.

Das ist natürlich eine ganz große Belastung. Und die Frage nach der Freundin, nach den Angehörigen, besonders bei denen, die auch schon Väter sind, ihre Kinder jetzt schon seit vier Wochen gar nicht mehr sehen können, das sind natürlich Dinge, die sehr belastend sind, wobei ich sagen muss, dass nach anfänglichen Verständnisproblemen doch die meisten Gefangenen da mit sehr viel Verständnis und sehr viel Disziplin mit dieser Situation umgehen.

Die Jungs suchen jemanden, dem sie vertrauen können

Und abseits der Krise, was sind da noch so für Sorgen und Ängste vorhanden, mit denen die Häftlinge zu Ihnen kommen?

Ich kann Ihnen das natürlich nicht im Detail erzählen, weil wir der Schweigepflicht unterliegen, aber es sind ganz normale Alltäglichkeiten, die in der Abgeschnittenheit der Haft eine ganz andere Dramatik bekommen. Stellen Sie sich vor, ein Gefangener, der vielleicht in der Untersuchungshaft ist und der nicht frei telefonieren kann, dessen Briefe über die Staatsanwaltschaft gehen, der ist in Briefkontakt mit seiner Freundin, und da gibt es dann die gleichen Krisen wie bei anderen jungen Pärchen auch, nur dass in diesem Fall der Brief erst an die Staatsanwaltschaft geht, dann weitergeleitet wird, und die Antwort geht den gleichen Weg. Das heißt, wenn sie einen Konflikt besprechen wollen, dann kann das gut mal vier Wochen dauern. Sie können sich vorstellen, was da in den Köpfen allein in solchen Beziehungsfragen mitunter passiert.

Und welche Köpfe kommen da zu Ihnen, sind das Menschen, die vor allem den Seelsorger oder auch Menschen, die den Geistlichen bewusst aussuchen?

Die Frage nach dem Geistlichen, nach ausdrücklichen religiösen Inhalten kommt vor. Es gibt Einzelne, die im Gefängnis die Zeit nutzen, sich auch mit religiösen Fragestellungen auseinanderzusetzen, das sind aber doch relativ wenige. Die meisten haben, wenn sie zu uns kommen, wenig religiöse Vorerfahrung und suchen zuerst mal jemanden, dem sie vertrauen können. Dem sie etwas anvertrauen können, wovon sie sicher sein können, dass es nicht weitergetragen wird, dass die anderen Gefangenen oder auch die Beamten davon nichts erfahren, weil das bei uns unter der seelsorglichen Verschwiegenheit steht und man deswegen ein bisschen freier reden kann. Während man sonst oft im Gefängnis gezwungen ist, jedes Wort genau zu überlegen, weil alles protokolliert und ausgewertet werden kann.

Jungs singen gerne zusammen

Gibt es auch noch andere Motive, die dahinterstecken, also gibt es zum Beispiel gewisse Erleichterungen, wenn Häftlinge zu Ihnen kommen?

Na ja, natürlich ist es immer interessant, wenn man mal aus dem Haftraum herauskommen kann. Die Aufschlusszeiten in den einzelnen Hafthäusern sind nicht so, dass es nicht attraktiv wäre, mal aus dem gewohnten Umfeld herauszukommen, bei uns in den Seelsorgeräumen mal einfach in einer anderen Atmosphäre zu sitzen, ein bisschen aufatmen zu können, vielleicht auch mal bei einer Tasse Tee in einer anderen Atmosphäre zu reden, als es sonst in den Haftbereichen möglich ist oder in den Büros der anderen Mitarbeiter. Dann wird bei uns auch mal gesungen, was für junge Leute ja ungewöhnlich ist. Mir ist es draußen in den Kirchengemeinden selten gelungen, mit Jugendlichen zu singen, und im Knast die Jungs singen gerne. Das lockert einfach das triste Alltagsleben mit wenig Ablenkung ein wenig auf.

In Ihrem Buch „Jailbirds“, die im Englischen umgangssprachlich Knastbrüder oder auch Galgenvögel heißen, sind auch Texte von Jugendlichen. Einer schreibt darüber, wie er einen Falken beobachtet und in dem Tier ein Gotteszeichen sieht. Kommt so was öfter vor oder ist das eher die Ausnahme?

Es gibt natürlich diese Übertragung auf so einen transzendenten Bereich, den die Jungs dann mitunter tatsächlich vornehmen. Es ist immer ein bisschen schwer – das ist wie im Religionsunterricht in den Schulen – zu unterscheiden, wo jetzt tatsächlich diese Idee im Vordergrund stand oder ob es dann vielleicht der Versuch ist, einer vermuteten Erwartungshaltung entgegenzukommen, weil ich halt Seelsorger bin. Also, dieses ausdrückliche Fragen nach Gott passiert eher selten, und wir gehen als Seelsorger auch nicht mit einem Fächer aus Bibelsprüchen zu den Leuten, um ihnen da jetzt irgendwas aufzudrücken, sondern wir haben den Glauben und unser Gottes- und Menschenbild als die Basis, von der aus wir arbeiten. Wenn das Thema relevant wird, dann bieten wir das natürlich auch an, aber zuerst geht es darum, den Menschen in seiner Situation und in seiner Not anzunehmen und ernst zu nehmen.

Auch in diesen Schreibprojekten, die ich seit einigen Jahren dort mache, geht es in erster Linie darum, dass das, was in den Jungs drinsteckt, rausgekitzelt wird, dass die Talente, die sie haben, gewürdigt werden, dass sie auch die Möglichkeit haben, Anerkennung zu bekommen auf eine Art, die sie vielleicht noch nie erlebt haben, wo sie meinten, sie müssen dann irgendwelche besonders krassen Dinge in ihrem Milieu vollführen, was sie dann manchmal dann doch in Konflikt mit dem Gesetz gebracht hat.

Auch Muslime bekommen religiöse Betreuung

Der Islam spielt natürlich heute wahrscheinlich auch in den Gefängnissen eine größere Rolle. Gibt es denn eigentlich auch muslimische Seelsorger?

Es gibt seit einigen Jahren die religiöse Betreuung durch muslimische Betreuer – der Begriff Seelsorger müsste da noch mal ein bisschen genauer geklärt werden, der ist dem Islam traditionell eigentlich nicht so eigen, wobei die Imame, die dort in die Anstalten kommen, sich dem stellen und versuchen, in einer ähnlichen Weise seelsorgliche Angebote zu machen, wie wir es tun. Es gibt Angebote für Freitagsgebete und inzwischen seit relativ kurzer Zeit auch die Möglichkeit, dass Imame zu Einzelgesprächen in die Anstalten kommen.

Das ist noch nicht ganz auf der Rechtsgrundlage, die wir haben. Zum Beispiel, was die Schweigepflicht betrifft, da sind die Imame doch dem Senat, dem Staat mehr verpflichtet, aber das ist natürlich eine Entwicklung, die da erst angestoßen worden ist. Es ist wichtig, dass die Imame kommen, weil wir einen ganz überwiegenden Anteil von muslimischen Gefangenen gerade im Jugendbereich haben. Bei den Erwachsenen ist das noch nicht so, aber das hat natürlich auch was mit der demografischen Entwicklung zu tun.

Erfahren Sie eigentlich, ob Sie jemanden für die Zeit nach der Haft helfen konnten, was aus ihm wird beziehungsweise dürfen sich die Jugendlichen auch nach ihrer Haft noch manchmal an Sie wenden, weil sie eben so ein Vertrauen aufgebaut haben?

Es kommt sehr häufig vor, dass die Jungs danach fragen, und ich biete ihnen an, dass sie sich bei mir melden können. Ich melde mich nicht von mir aus. Das ist mir auch wichtig, dass die Jungs wie auch im Gefängnis die Freiheit haben, da die Initiative zu übernehmen, so wie im Gefängnis keiner mit uns als Seelsorger sprechen muss – und es gibt nicht viele Dinge im Gefängnis, die freiwillig sind. So ist das mit dem Kontakt danach auch. Es gibt einige, die sich in größeren Abständen melden, die meisten melden sich nicht, und ich halte das auch für gut. Denn wenn sie entlassen sind, müssen sie ihr Leben neu ordnen und neu sortieren.

In zwölf Jahren keine Taufe

Aber es gibt welche, die sich dann in größeren Abständen mal melden. Das sagt aber noch nichts darüber aus, ob die Gefangenen dann nach ihrer Entlassung jetzt durch unsere Arbeit als Seelsorger besonders begleitet worden sind, einen Neuanfang zu schaffen, weil nicht abrechnen können und wollen, was unsere Arbeit da tatsächlich bewirkt. Wir beobachten, dass der eine oder andere doch auf einem guten Weg ist. Wir sehen leider bei manchen auch, dass es wahrscheinlich ein Wiedersehen hinter Gittern geben wird, aber bei denen, wo man den Eindruck hat, da hat sich was entwickelt, der ist auf einem guten Weg, da haben natürlich nicht nur wir Seelsorger, sondern ganz viele verschiedene Dienste ihren Anteil daran.

Gibt es auch Geschichten von ehemaligen Häftlingen, die den Weg zu Gott gefunden haben?

Es gibt Einzelne, die davon dann im späteren Kontakt mal erzählen. Es gibt – nicht aus meinem eigenen Erfahrungsbereich – manche, die dann sehr offensiv mit solchen Bekehrungserlebnissen umgehen, aber ich denke schon, dass es zumindest für manchen eine neue Dimension in ihrer Weltsicht gegeben hat. Was so das ausdrückliche, ich sag jetzt mal, klassisch Kirchliche betrifft, da haben wir das relativ selten. Es gibt im Erwachsenenvollzug bei Leuten mit sehr langen Strafen immer mal Leute, die dann auch den Weg zur Taufe finden und die dann sehr intensiv auch den Glauben in der Haft leben. Bei den Jugendlichen sind die Strafen im Schnitt ja kürzer, ich hab also in gut zwölf Jahren, die ich jetzt dort bin, noch keinen in Richtung Taufe gebracht, aber schon den einen oder anderen vielleicht zum Nachdenken über Gott und die Welt. Das ist ja dann oftmals schon eine ganze Menge.

Mit freundlicher Genehmigung: Deutschlandfunk Kultur 

 

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