Konstantin Wecker überbringt Videobotschaft zur Preisverleihung

20. Juni 2022

Das Sozialinstitut „Kommende“ in Dortmund war erneut Gastgeber der Preisverleihung für den Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis. Am Sonntag, 19. Juni 2022, gab es dort eine Feierstunde zur Ehrung der PreisträgerInnen 2021. Prof. Dr. Helmut H. Koch aus Münster, Gründungsmitglied des Ingeborg-Drewitz-Literaturpreises, nahm die Preisverleihung vor. Die eingesendeten Texte für den Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene sind in der Coronazeit „Klopfzeichen“ für unsere Gesellschaft.

Seit 1989 wird der Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene verliehen. Aus den Einsendungen wählt die Jury die qualitativ gelungensten und eindrucksvollsten Texte (Gedichte, Erzählungen, Romanauszüge, Tagebuchaufzeichnungen, Reportagen, Briefe, Hörspiele etc.) aus. Die ausgezeichneten Beiträge werden anschließend in einer Anthologie in Buchform veröffentlicht. Die Jury besteht aus sechs Juroren. Zur Grundidee des Preises gehört die paritätische Zusammensetzung der Jury aus (teilweise ehemaligen) Gefangenen und Nicht-Gefangenen. Bei letzteren wird zumeist versucht, Persönlichkeiten aus den Bereichen Literaturkritik, Journalismus oder Kriminologie zu gewinnen. Das Sozialinstitut „Kommende“ in Dortmund war erneut Gastgeber der Preisverleihung für den Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis. Konstantin Wecker ist per Video zugeschaltet.

Konstantin Wecker erzählt von seiner Haft

Der Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis ist in dieser Form deutschlandweit einzigartig und stellt einen ergänzenden Faktor im deutschen Kulturleben dar. Dies zeigt sich darin, dass bei den vergangenen Ausschreibungen die namhaften AutorInnen Martin Walser, George Tabori, Luise Rinser sowie der ehemalige Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Hans Schwier, als Schirmherren dienten. Der Schirmherr der diesjährigen Preisverleihung, der Musiker und Liedermacher Konstantin Wecker, wurde mit einer Videobotschaft zugeschaltet. Seit mehr als 40 Jahren zählt er zu den bedeutenden deutschen Liedermachern – der streitbare Dichter und sanfte Revoluzzer Konstantin Wecker. Erst kürzlich feierte er seinen 75. Geburtstag. Konstantin Wecker ist ein Multitalent, der das Auf und Ab im Leben aus eigener Erfahrung kennt. Viele Lieder hat er geschrieben, dazu Filmmusiken, Musicals, Gedichte und Bücher. Auch war er als Schauspieler tätig.

Konstantin Wecker erzählte aus seiner ersten Inhaftierung als 18 jähriger. Er erfuhr das Schreiben als lebensnotwendig für sich, als er in Ermangelung von Schreibpapier auf Toilettenpapier schrieb. Als unrechtmäßige Willkür erlebte er, dass ihm Bedienstete die Schriftstücke wegnahmen. Das Schreiben sei die Chance, hinter der Realität die Wirklichkeit zu entdecken. Schreiben bedeute, im eigenen Selbst einzutauchen, wie er es in seinem Buch: „Die Kunst des Scheiterns“ erzählt.

Eine Kollegin aus Köln bei der Entgegennahme des Preises für einen Inhaftierten. Rechts im Bild Jörg Stucht von Chance e.V. Münster. Fotos: Detlef Herbers

Klopfzeichen für die Gesellschaft

Der stellvertretende Direktor des Sozialinstituts, Dipl.-Theol. Detlef Herbers begrüßte die anwesendenden Gäste, die Jurymitglieder, den Trägerkreis und die PreisträgerInnen zum Festakt. Der Direktor der Kommende Dortmund, Prälat Dr. Peter Klasvogt verwies in seinem Grußwort auf das Hörspiel von Heinrich Böll aus dem Jahr 1960: „Klopfzeichen“. Klopfzeichen aus einer Zelle seien ein Verschlossenheits-Aufbruch zum anderen Menschen. So seien auch dDie eingesendeten Texte für den Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene in der Coronazeit Klopfzeichen in und für die Gesellschaft. Inhaftierte haben während der Coronazeit in ihrer Gefangenschaft zusätzliche Isolation erfahren. So wie das Ende im Hörspiel Heinrich Bölls offen bleibt, bleibt die Wirksamkeit der Texte von Inhaftierten in der Regel ebenso offen.

Prof. em. Helmut Koch, Mitbegründer des Ingeborg-Drewitz-Literaturpreises und der Arbeitsstelle Randgruppenliteratur, hob hervor, dass mit der Veröffentlichung von Literatur von Gefangenen eine wichtige Entwicklung begann, da diese „von unten“ kam. Der Hype um diese Literatur endete unter politisch interessierten Linken und Intellektuellen bereits 1982/83. Umso wichtiger sei der Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis, der seit 1989 verleihen werde, da die Menschen „von unten“ dadurch Gehör und Aufmerksamkeit erfahren, zumal solche Literatur in JVA´en  höchst unbeliebt sei und oft genug Zensur ausgeübt werde. Jurymitglied Hubertus Becker, mittlerweile selbst anerkannter Autor und Preisträger der ersten Stunde  erwähnte, dass für die erste Preisverleihung, ohne sein Wissen, ein Text von ihm aus der Gefangenenzeitung der JVA Hamburg ausgewählt wurde.: „Die Fahrt in der grünen Minna“. Und wir wissen, dass diese Zeitung z.T. der Zensur unterliegt.

Koch beschrieb weiterhin, dass die Initiative Gefangenenliteratur zu würdigen und zu veröffentlichen eine praktische Zusammenarbeit u.a. mit SozialarbeiterInnen und PädagogInnen hervorbrachte, die zur verstärkten „Alphabetisierung“ von Gefangenen führe. Auch spätere TeilnehmerInnen am Ingeborg-Drewitz-Preis lernten erst in Haft schreiben. Und diese Bewegung führte zur Einführung der Fernleihe für Literatur in den Gefängnissen. Wie wichtig so eine Alphabetisierung sei, hätte in Nicaragua Ernest Cardenal immer wieder hervorgehoben und gefördert. Poesie zu verfassen und zu schreiben wäre auch unter einfachen Menschen sehr verbreitet. Es hilft die eigenen Situation existentiell zu verarbeiten, aber auch auf unwürdige Verhältnisse hinzuweisen. Texte zu schreiben ist wichtig für die Reflexion nach innen und für das politische Engagement. Die Preisträger und Preisträgerinnen brachten dies in ihrem Dank für die Auszeichnung unisono zum Ausdruck.

Schreiben als Schlüssel nach draußen

Mit der Ausschreibung zum Ingeborg-Drewitz-Preis zum Thema „Gefühle verboten – Gefühle verbogen“ sind Texte eingereicht worden, die über das Beschreiben von Erlebten hinaus gingen und Gefühle vermitteln in schweren Situationen. Genau dies begrüßte einer der diesjährigen Preisträger, Christian „Bär“ Templiner, der seit 28 Jahren in Haft und Sicherungsverwahrung sitzt, inzwischen zwei Bücher veröffentlicht hat und derzeit ein Kinderbuch schreibt. Er bezeichnet das Schreiben als „einen Schlüssel nach draußen, der die Justiz nicht mehr sein kann!“.

Prof. em. Johannes Feest, Begründer des Justizvollzugsarchivs und des Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis beklagt, dass  in den vergangenen Jahren nur wenige PreisträgerInnen teilnehmen konnten. Christian „Bär“ Templiner „durfte“ im Gegensatz zu anderen inhaftierten Preisträgern am frühen Sonntagmorgen in Begleitung durch zwei Vollzugsbedienstete aus Berlin anreisen. Dafür war er, sichtlich gerührt, sehr dankbar. Die anderen  anwesenden PreisträgerInnen sind bereits entlassen oder kamen aus dem offenen Vollzug: Rero W., der bereits das dritte Mal zu den Preisträgern zählt, aber jetzt das erste Mal live dabei sein konnte, Nina Ruhr und Nador. Für Johannes Jötten nahm stellvertretend ein Mitarbeiter des pädagogischen Dienstes den Preis entgegen, für Helmut Pammler und Frank Bieber-Kopf eine gemeinsame Freundin. Johannes Feest war über die  Ablehnung von Ausführungen der anderen Preisträger verärgert. Dies widerspreche dem Strafvollzugsgesetz (StVG). Meist wird „Personalmangel“ als ablehnender Grund genannt, am liebsten zwei Tage vor der Preisverleihung, so dass die Betroffenen keine Chance mehr hätten, Widerspruch gegen die Entscheidung einzulegen.

Unterstützung des Preises

Prof. Helmut K. Koch dankt Regina Merkel für die langjährige organisatorsische Unterstützung und Mitarbeit im Trägerkreis.

Im Kreis der Jury macht die Gefängnisseelsogerin, Dorothee Wortelkamp-M`Baye, von der JVA Köln den Vorschlag, dass vor der nächsten Preisverleihung ein Anschreiben an den/die jeweilige JustizministerIn der Länder gerichtet werden soll. Für die Inhaftierten ist es ein Kampf gegen Windmühlen, eine Ausführung zu einer Preisverleihung genehmigt zu bekommen. Gegen Ende wurde Regina Merkel, langjährige ehrenamtliche Mitorganisatorin des Ingeborg-Drewitz-Literaturpreises für ihr Engagement geehrt. Den Staffelstab hat seit zwei Jahren die Initiative Chance e.V. Münster übernommen. Ohne deren Organisation wären das Jurytreffen und die Preisverleihung kaum möglich. Finanziert wird der Druck der Bücher und alle Auslagen über ein Treuhandkonto und Chance e.V.  Spenden an Chance e.V., die eine Spendenquittung ausstellen können, fließen in die Finanzierung des Ingeborg-Drewitz-Literaturpreises ein. Die vorherige und aktuelle Anthologie können über den Verein erworben werden, wodurch die Druckkosten mitfinanziert werden. Der Rhein-Mosel-Verlag veröffentlicht gerne Gefangenenliteratur. Der Förderverein der Katholischen Gefängnisseelsorge in Deutschland e.V. unterstützt seit vielen Jahren den Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis.

Trägerkreis

Die musikalische Begleitung übernahm das Gitarrenduo Earp-Witt aus Dortmund. Nach der Preisverleihung gab es einem kleinen Empfang. Zum Trägerkreis des Preises gehören die Gefangeneninitiative Dortmund, die Strafvollzugsarchive an der Fachhochschule Dortmund und der Universität Bremen, und der Verein Chance e.V. Münster, die Humanistische Union Nordrhein-Westfalen, die Katholische Gefängnisseelsorge in Deutschland e.V., die Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland und die Dokumentationsstelle Gefangenenliteratur der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.

Dorothee Wortelkamp-M`Baye | JVA Köln

 

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