Halbseitige spastische Lähmung und ein angeschlagener Sprachnerv: Darunter leidet Christoph Rickels. Er ist Geschädigter einer Gewalttat. Mit 20 Jahren wurde er nach einem Discobesuch ohne Vorwarnung zusammengeschlagen und ist seitdem zu 80 % schwerbehindert. Von seinen Erfahrungen und Enttäuschungen berichtet er den Inhaftierten im Jugendvollzug.
Es wird still, als Rickels das Wort in der Anstaltskirche der JVA Herford ergreift. Ein Mikrofon will er nicht benutzen. Zu eingeschränkt ist sein Sprechen, das geht besser ohne. Die Inhaftierten hören zu und man sieht an ihren Gesichtsausdrücken, wie es in ihnen arbeitet. Rickels versucht die jugendlichen Täter von Anfang an anzusprechen. „Ich war ein kleiner Möchtegern-Gigolo und ein Draufgänger“, beschreibt er sich selbst im Alter von 20 Jahren. Kurz vor Beginn seiner geplanten Ausbildung bei den Feldjägern der Bundeswehr, lud er ein Mädchen an einer Bar in Aurich auf einen Drink ein. Wie man es so macht, flirtet er und unterhält sich mit ihr. Deren eifersüchtiger Freund lauert Rickels daraufhin am Ausgang auf und versetzt ihm einen so schweren Schlag, dass dieser mit dem Kopf auf eine Betonplatte aufschlägt. Das Video der Tat im Jahr 2007 spielt Rickels ein. Die Folgen des fatalen Faustschlags waren ein Schädel- und Jochbeinbruch sowie eine sechsfache Hirnblutung.
Täter treffen Gewaltopfer
Es ist zum ersten Mal, dass ein Geschädigter auf jugendliche Täter in der JVA Herford trifft. Einige der Inhaftierten sind auf der Sozialtherapeutischen Abteilung (SoThA) untergebracht. Die Gruppe besteht aus Teilnehmern des Behandlungsprogrammes für Inhaftierte Gewaltstraftäter (BiG). Schwere Jungs, die sehr gut solche Auseinandersetzungen kennen, die man mit einem Faustschlag zu klären versucht. Doch der eine Schlag verändert das Leben des jungen Mannes grundlegend. Vier Monate liegt Rickels im Koma. Seine Erinnerung ist weg, er muss neu lesen, gehen und denken lernen. Zu 80 % ist er jetzt schwerbehindert und muss immer wieder zu langen Behandlungen in die Klinik.
„Ich war genauso einer…“
„Ich würde gerne wieder weinen, weil ich dies aufgrund er Gehirnschäden nicht mehr kann. Auch mein Lachen ist an Stellen, an dem es nicht passt“, erzählt er. Mühsam findet er ins Leben zurück. Der Täter wird vor Gericht zu 2 Jahren und zwei Monaten verurteilt, die auf Bewährung ausgesetzt wird. Ein Hohn für ihn als Gewaltopfer. „Anfangs hatte ich Rachegedanken, doch durch meine Initiative first togetherness habe ich einen Ausweg gefunden, so dass ich das reflektieren konnte und mich gefragt habe, warum das überhaupt passiert ist. Ich habe erkannt, dass ich früher ja selber genauso einer war und dass ich mich auch geschlagen habe“, erzählt er mit Blick zu den Gefangenen. Das sei für ihn heute ein falsches Verständnis von Coolness.
Erzählen hilft zu verarbeiten
Die öffentliche Berichterstattung durch Filmbeiträge, das Sprechen in Talkshows und die Veröffentlichung seines eigenen Buches mit dem Titel „Schicksalsschlag“ geben ihm Kraft zu kämpfen. Das muss er auch, weil er zivilrechtlich gegen den Täter vorgeht. „Ich habe versucht mit ihm zu sprechen, doch er weigert sich, ein Gespräch mit mir zu führen“, sagt Rickels resigniert. Schließlich werden ihm 200.000 Euro Schmerzensgeld zuerkannt. „Wer leidet nach solch einer Tat noch alles mit?“, fragt er die Gefangenen. „Deine Familie und der Täter selbst“, erwidert ein Inhaftierter. „Mein Täter muss Zeit seines Lebens zahlen, auch wenn er dies nicht kann. Dann wird zwangsvollstreckt“, berichtet Rickels. Damit ist es noch nicht zu Ende. Bis zum Bundesverfassungsgericht muss er als Geschädigter klagen. Der Grund ist, dass die Haftpflichtversicherung des Täters keine Kosten übernehmen will. „Wenn ich da gewinne, dann hat das Auswirkungen auf viele Opfer von Gewaltstraftaten“, stellt er fest.
First togetherness
Die Initiative zur Gewaltprävention ist eines seiner Herzens-Projekte. „Das Logo mit dem Herz habe ich patentieren lassen. Mit First togetherness merke ich, dass ich was bewege, und das motiviert. Es hilft mir schlechte Gedanken oder Trauer und Wut beiseite zu schieben“, fügt der heutige 37-Jährige hinzu. Auf seiner Power Point Präsentation ist zu lesen: „Man erntet, was man sät.“ Der aus Ostfriesland stammende Mann will die Menschen aufrütteln und ihnen zeigen, dass es gemeinsam bessergeht. „Es ist cooler bei sich selbst anzufangen“, sagt er. Als Rickels den Song abspielt, den er kurz vor der Tat aufgenommen hat, klatschen die Gefangenen am Ende gefühlt minutenlang. Danach gehen einzelne Gefangene zu ihm und wollen seine Unterschrift auf der ausgeteilten Postkarte seiner Initiative. „Das war echt stark“, sagt ein Inhaftierter, „dass Du als Gewaltopfer dich hierher in den Knast traust. Da können wir einiges lernen“, gibt ihm ein Jugendlicher persönlich seine Rückmeldung an ihn. „Das ging echt unter die Haut…“, sagt er glaubhaft.
Michael King | Fotos: Radtke
Hintergrund
Die Veranstaltung wurde im Rahmen der Sepp Herberger Stiftung ermöglicht. Sepp Herberger formte von 1936 bis 1964 die Fußball-Nationalmannschaft. Mit der Weltmeisterschaft in der Schweiz 1954, nur wenige Jahre nach einem Neuaufbau fast aus dem Nichts, errang er einen großen Triumph. Herbergers Arbeit richtete sich neben der Nationalmannschaft auf viele soziale Bereiche aus. Sie schloss die Anleitung der Jüngsten und ihre Heranführung an den Fußball ebenso ein wie die Schaffung eines vorbildlichen Ausbildungssystems und die kameradschaftliche Sorge für seine ehemaligen Schüler und Spieler.
Sepp Herberger starb am 28. April 1977 in einem Mannheimer Krankenhaus. Noch zu Lebzeiten engagierte sich Sepp Herberger für die Resozialisierung von Strafgefangenen. Bis heute konnten über 25 Millionen Euro für verschiedene soziale Projekte und Aktivitäten aufgewendet werden. Dabei stützen sich die Aktivitäten und Fördertätigkeiten der Stiftung auf die vier Säulen des Behindertenfußballs, der Resozialisierung von Strafgefangenen, der Förderung des Fußball-Nachwuchses in Schulen und Vereinen sowie des DFB-Sozialwerks.