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Extremismusprävention und Deradikalisierung im Strafvollzug

23. Januar 2025

Die Turnschuhe quietschen – nachdem das Projekt in Gestalt eines dreistündigen Seminarteils stattfand, ist der anschließende Sportteil in der Turnhalle der Thüringer Jugendstrafanstalt (JSA) voll im Gang. Ein Trainer leitet Dribbling-Übungen mit dem Fußball an. Neun Inhaftierte mit unterschiedlichen Delikten folgen seinen Anweisungen. Am Rand der Turnhalle sitzen zwei Pädagoginnen, die am Vormittag durch das Seminar geleitet haben. Einer der jungen Männer fiel dabei bereits mit problematischen Aussagen auf, die anzeigten, dass er sich anderen Personengruppen überlegen fühlt.

Die Pädagoginnen verfolgen das Treiben auf dem Spielfeld, sie sind ansprechbar für die Inhaftierten. Und mehr noch: Sie scheinen Beobachterinnen zu sein, gehen jedoch an adäquater Stelle aktiv auf die Teilnehmenden zu. Vorerst jedoch ist die Gruppendynamik zu wahren. Einer der jungen Männer setzt sich außer Atem zu einer der Pädagoginnen. Er braucht eine Pause. Der Moment ist günstig, um allein zu sprechen. Bereits im Seminarteil waren seine zahlreichen Tätowierungen aufgefallen, einige bereits gecovert. Was war vorher an den Stellen? Welche Geschichte erzählen die Bilder auf seiner Haut?

Tattoo: Veränderungen anregen. Foto: Marcus Intek

Tätowierungen eröffnen Gespräche

Es ist deutlich zu erkennen, welche Tätowierungen alt sind, welche neu. Sichtbar werden die Ablehnung der Polizei, Gewaltbereitschaft und Selbstzuschreibungen. Tätowierungen sind häufig mehr als reine Körperkunst und haben oftmals eine tiefere Bedeutung für einen Menschen. Sie lassen sich manchmal mit einem Weltbild, einer politischen Überzeugung oder einer Szene in Verbindung bringen. In Haut gestochene Botschaften überdauern so manche Lebensphase, sie sind beständig. Der junge Mann ist bereit, über seine Tätowierungen zu sprechen. Er erzählt von der früheren Zugehörigkeit zu einer extremistischen Szene, seinen Erfahrungen in der Szene und dem Grund seiner Haft. Eine kleine Pause im Sportteil erfolgt, als sich andere Teilnehmende zu ihnen setzen. Die Ausführungen zu den Tätowierungen werden geparkt. Sie werden an anderer Stelle in einer pädagogischen Übung in den Seminarkontext überführt.

Tätowierungen geben oftmals einen Anlass, um die Tür für ein Einzelgespräch zu öffnen. Auch über Aussagen in der Gruppe können so geschickt Themen aus dem Seminar- und Gruppenkontext heraus ins vertiefende Einzelgespräch transportiert werden. Diese sind wichtig. Denn abseits der Gruppe lassen es die jungen Männer1 viel eher zu, biografische Bezüge zu bearbeiten. Wie sich im weiteren Beitrag zeigen wird, ist dieser Umstand wesentlich für den Auftrag des hier besprochenen Projekts „Blickpunkt“. Dieses richtet sich an die Thüringer Arrest- und Vollzugsanstalten sowie die Bewährungshilfe. Es ist primär- sowie sekundärpräventiv ausgerichtet und verfolgt das Ziel, straffällig gewordene junge Menschen vor Extremismus zu schützen bzw. einer Radikalisierung frühzeitig entgegenzuwirken. Hauptzielgruppe sind sowohl Inhaftierte als auch Probanden und Probandinnen der Bewährungshilfe.

Seit 2021 arbeitet das Projekt in Gruppenformaten und Einzelberatungen. Bei ersteren setzt es auf die Kombination aus Seminar- mit Sporteinheiten. Über die Ansprache in der Gruppe werden die Inhaftierten in einem mehrtägigen Kurs zu Perspektivwechsel, Reflexionen und der Auseinandersetzung mit Themen wie zum Beispiel Diskriminierung angeregt. Hieraus ergeben sich im Verlauf eines Kurses immer wieder sogenannte beraterische Kurzinterventionen, die einen akuten Bedarf bedienen können. Dieser kann beispielsweise dann eintreten, wenn ein Inhaftierter sich rassistisch, sexistisch, homophob oder antisemitisch äußert. Auch das Zeichnen oder Zeigen von Kennzeichen und Symbolen extremistischer Gruppierungen gibt den Anlass für eine erste Intervention im Rahmen dieses Angebots. […]

Extremismusprävention und Deradikalisierung

Voraussetzung ist die Bereitschaft der Teilnehmenden, sich kritisch mit den eigenen (politischen) Einstellungen und Weltbildern auseinanderzusetzen. Einstellungen sind als Bewertungen und Bilder zu verstehen. Diese können sowohl bewusst als auch unbewusst vorliegen. Sie unterscheiden sich letztlich darin, inwieweit die jungen Menschen einen Zugang zu ihnen haben. Können sie sie in Gänze wahrnehmen, in Sprache bringen und damit korrigieren? Bewertungen und Bilder sind für den Bereich der Extremismusprävention hochgradig interessant, denn gerade diese sind es, die über Vorurteile im Alltag ganz beiläufig Ausgrenzungstendenzen und Ressentiments schaffen und reproduzieren können. In der Deradikalisierung hingegen sind diese Tendenzen bereits durch problematisches Handeln sichtbar geworden und hier gilt es, ihnen intervenierend zu begegnen. Dafür werden sowohl die Einstellungen als auch die hieraus resultierenden Handlungsweisen fokussiert.

Als problematisch wird all das betrachtet, was sich gegen die Menschenrechte und das Grundgesetz richtet. Alle Einstellungen, Bewertungsmaßstäbe oder Verhaltensweisen, die diesen nicht entsprechen und diese gefährden, genießen im Projektraum besondere Aufmerksamkeit. Es gilt, diese zu highlighten und ins Zentrum der Projektaktivitäten zu rücken. Ziel dabei ist es nicht, von außen angeleitete Änderungen in Verhalten oder Einstellungen herbeizuführen, denn das würde wohl eher in Aussagen münden, die sozial erwünscht sind. Vielmehr liegt die Chance im Projekt in der Bereitstellung und Begleitung von Lern- und Entwicklungsprozessen. Denn nur so können Teilnehmende befähigt werden, Einstellungen bewusst und selbstbestimmt zu korrigieren. Und dies auch nur dann, wenn die Teilnehmenden dies eigenmotiviert und aktiv umsetzen wollen, wenn sie das Problematische als eben solches erkennen. Alles andere läge im Bereich der Manipulation, würde dem Ethos der pädagogischen Disziplin zuwiderlaufen und die Techniken von extremistischen Gruppen nur kopieren. In der pädagogischen Projektpraxis ist auf die Herkunft einer Einstellung zu achten, weil der Ursprung dieser häufig in der Biografie begründet liegt. Das können beispielsweise Vorurteile sein, mit denen ein junger Mensch in seiner Kindheit und Jugend permanent konfrontiert wurde. Das können aber auch handfeste Rassismen sein, die den Alltag bestimmten.

Sport in der JVA Köln-Ossendorf. Foto: Imago

Rückschläge als Chance

Das menschliche Gehirn wird durch Erfahrungen, Menschen und Systeme der nahen Umgebung sozialisiert und programmiert. Diese Programmierung wiederum prägt die Denk- und Handlungsmuster nachhaltig. In dieser Logik können sich auch menschenverachtende Ansichten zu eingeübten Denkweisen verfestigen. Eine Wahrnehmung, Neubesetzung oder gar Korrektur dieser im Erwachsenenalter ist häufig nur unter Anstrengung möglich. Gerade weil der Mensch auf eingeübte Muster schnell und mühelos zugreifen kann, ist es sehr anstrengend, an diesen zu arbeiten. Um diese Anstrengung nicht allein bewältigen zu müssen, setzt das Projekt auch auf eine pädagogische Begleitung mittels Einzelberatungen. Anders als im Gruppenformat lassen diese es zu, Rückschläge im Veränderungsprozess aufzufangen. Die Teilnehmenden sind gefordert, Sprache zu finden für einen inneren Zustand. Sie werden zur Selbstexploration angeregt, da nur so ein Gefühl der Selbstgestaltung und -ermächtigung entstehen kann. Solange andere über sie sprechen oder entscheiden, bleiben sie in ihrem Leben nur Zuschauende. Der Fokus der Einzelberatung liegt immer in einer problematischen Einstellung oder Verhaltensweise. In der Regel beziehen sich diese auf einen Phänomenbereich des Extremismus wie das rechtsextreme Milieu. Als Ziel steht neben dem Bewusstsein für die eigenen Einstellungen auch das Ziel einer Absichtsbildung zur Veränderung oder Korrektur. Erst wenn die Vorteile einer Verhaltensänderung die Nachteile überwiegen, kommt es zur Planung und Umsetzung alternativer Handlungsoptionen.

Rückschläge sind in der Praxis absehbar, weshalb ein Prozess längerfristig angelegt sein sollte. Sie sind unbedingt als Chance zu begreifen, da sie aufzeigen, dass die gewählte Strategie nicht für den Alltag passend scheint. Es gilt, die Teilnehmenden ins Hinterfragen zu bringen. Dabei werden die Bedingungen erfragt, die es beispielsweise für ein straffreies oder glückliches Leben benötigt. Ebenso wird Bezug genommen auf mögliche Bedürfnisse, die der junge Mensch in seinem Leben nicht erfüllt sieht, wie die Bedürfnisse nach Freiheit, Orientierung und Zugehörigkeit. Und letztlich ist zu ergründen, wie eben jene Bedürfnisse bisher befriedigt wurden. Ist hier ein Mangel vorhanden, spielt das radikalen oder extremistischen Gruppen leider nur allzu oft in die Karten. Als sogenannte Push-Faktoren machen sie Menschen anfälliger für extremistische Ansprachen. Und die wiederum warten auf mit teilweise sehr attraktiven Strategien und Angeboten. Sogenannte Pull-Faktoren bieten oft Lösungen für den Mangel an Bedürfnisbefriedigung an. Gemeinsam wird in der Beratung nachgezeichnet, woher eine Sympathie für eine Szene oder gar die Übernahme eines menschenfeindlichen Weltbildes rührt. Entlang dieser möglichen Fragen werden schließlich Ziele formuliert, die zeitlich überschaubar sein sollten. Sind diese zu weit in der Zukunft platziert, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns. Ziele müssen erreichbar, also kleinschrittig und verhaltensbezogen sein. Der Zielpunkt ist möglichst der Startpunkt der Veränderung, nicht ihr Ende. Wichtig dabei ist eine fehlerfreundliche Haltung seitens der beratenden Person, die so die Motivation zur Verhaltensänderung der Teilnehmenden aufrechterhält.

Projekt „Blickpunkt“

Mit den genutzten Techniken der Gesprächsführung können Teilnehmende in verschiedenen Phasen erreicht werden. Für das vorliegende Projekt betrifft das die straffällig gewordenen Personen mit problematischen Einstellungen ohne eine Absicht, sich von menschenverachtenden Einstellungen zu lösen, als auch jene, die diese bereits hinterfragen. Und selbstredend auch die Teilnehmenden, die in ihren Einstellungen stabil hinsichtlich humanistischer Prinzipien sind, deren gezeigtes Verhalten oder der Umstand einer Inhaftierung sie allerdings anfällig für Radikalisierungsprozesse machen können. Das Projekt ist in Haft daher so aufgebaut, dass es per se alle Interessierten anspricht, die noch nicht in radikalen oder extremistischen Szenen fest organisiert sind. Das Projekt „Blickpunkt“ ist wie auch andere zivilgesellschaftliche Projekte darum bemüht, junge Erwachsene vor einer Gewaltspirale zu bewahren, sie nicht ins Extreme abgleiten zu lassen und sie gleichsam mit ihrem individuellen Gewordensein sowie Bedürfnissen ins Zentrum der Arbeit zu stellen.

Die jungen Menschen können sich nicht passiv zurücklehnen. Das dargelegte Vorgehen bedeutet für sie eine unbequeme und vor allem emotional höchst anspruchsvolle Leistung. Vonnöten sind daher authentische und behutsame Ansprachen. Persönliche Entwicklungen und Veränderungen sind zumeist längerfristige Prozesse. Durch eine pädagogische Begleitung erfahren sie bestenfalls nachhaltige Unterstützung. Die hierfür arbeitenden Projekte deutschlandweit stehen daher vor dem Anspruch, sich für die einzelnen Teilnehmenden auf den Prüfstand zu stellen. In der extremismuspräventiven Arbeit gibt es kein allgemeingültiges Patentrezept. Die Maßgabe ist, die jungen Menschen ehrlich zu erreichen. Und dafür braucht es pädagogische Methoden, Zugänge und Ideen. Solche, die zusätzlich dabei behilflich sind, die Menschenrechte und ein Demokratieverständnis so zu übersetzen, dass ein junger Mensch sie in die eigenen Lebenswirklichkeiten übertragen kann. Die Projekte haben an dieser Stelle keinen Raum für Kompromisse. Die Menschenrechte und das Grundgesetz sind nicht verhandelbar.

Laura Gorges, Stefanie Obst | Mit freundlicher Genehmigung: Magazin IN:UNITY 2/2024 | Titelfoto: King

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