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Auf eine Tasse Instant-Cappuccino mit dem Gefängnisseelsorger

6. Juli 2022

Michael King ist Gefängnisseelsorger der katholischen Kirche. Er arbeitet im Jugendstrafvollzug der Justizvollzugsanstalt Herford in Nordrhein-Westfalen. Für das online Magazin JURios berichtet er aus seinem Berufsalltag. Auf der Plattform gibt es kuriose Urteile und Gesetze zu lesen. Eben alles, was die Juristerei hergibt. Dazu kommt die Gefängnisseelsorge…

Ein 16-jähriger Inhaftierter schlürft im Büro der Gefängnisseelsorge im Jugendstrafvollzug der ostwestfälischen Justizvollzugsanstalt Herford ein Tasse Cappuccino. Zuvor hat er mühevoll Löffel für Löffel das Pulver aus der Dose genommen. „Wie viel muss ich da rein machen?“, fragt er Michael King. Zu diesem Zeitpunkt ist seine Tasse schon halb voll. Rings um die Tasse auf dem Tisch verteilt sich das verschüttetes Pulver des hochwertigen Schoko-Cappuccinos. Geübt schiebt sich der junge Gefangene das Pulver vom Tisch in die Tasse. „Jetzt kommt das heiße Wasser drauf – Kopf kaputt“, fügt er hinzu und grinst.

Angebot eines ergebnisoffenen Gesprächs

„Kopf kaputt“ hört man des Öfteren in Gesprächen. Verurteilt, im Knast gelandet und jetzt bekommt man hinter den Mauern auch noch einen Haftschaden. „Draußen bin ich ganz anders als hier“, sagt der 16-Jährige zu King. Bedienstete äußeren gegenüber dem Gefängnisseelsorger manchmal abwertend: „Die Jungs kämen nur wegen dem Kaffee zu den Gefängnispastoren.” Doch diese Stimmen sind laut King weniger geworden. Spürbar für alle Bediensteten und Mitarbeiter:innen der Fachdienste sei, dass der Fachdienst „Seelsorge“ Druck und Aggressionen im System mildern kann. Es soll aber kein oberflächliches „Pflaster“ sein im Sinne von „jetzt trink mal schön Kaffee mit dem Pastor, dann ist alles gut…“ Dem ist nicht so, betont King. In den Gesprächen mit ihm werde Nichts beschönigt oder klein gemacht. Kaffee, Cappuccino oder Tee sind nur „Aufhänger“, um in ein ergebnisoffenes Gespräch zu kommen.

Die Aussage „Kopf kaputt“ kann dabei signalisieren, dass ein Erkenntnisweg beginnt oder es ist ein Hinweis darauf, dass das Selbstmitleid überhand nimmt. An einer Tasse Cappuccino kann man sich festhalten, wenn im Gespräch plötzlich in ganzen Sätzen ausgedrückt wird, was vorher nicht einmal gedacht wurde. „Haben Sie keinen Zucker?“ fragt der 16-Jährige plötzlich, als er erzählt, wie es dazu kam, dass er in der JVA landete. „Nein“, sagt King, „wir haben nur Süßstoff.“ Grund ist der, dass von den Gefangenen Würfelzucker in Unmengen verschlungen wird. Mit Cappuccino und viel Zucker lässt sich das Leben etwas versüßen. So schüttelt der Jugendliche die Süßstoffdose und klickt mehr als 10 Südstofftabletten in sein Heißgetränk. „Du weißt schon, dass eine Tablette einem Würfelzucker entspricht?“, fragt King schon fast entrüstet. Der Jugendliche nimmt dies nur am Rande zur Kenntnis und erzählt einfach weiter, während er in seinem Cappuccino rührt.

Ein Leben hinter Mauern unter Aufsicht

Das ist eine der Szenen, die King als Gefängnisseelsorger im Jugendvollzug erlebt. Fast sein ganzes Berufsleben arbeit er im Jugendstrafvollzug. Zuerst 6 ½ Jahre in der Jugendanstalt Rassnitz in Sachsen-Anhalt. Danach bis heute über 9 Jahre in der nordrhein-westfälischen JVA Herford. Die beiden Gefängnisse können unterschiedlicher nicht sein. Doch eine Gemeinsamkeit haben sie: Der Gefängnisalltag eines jugendlichen Inhaftierten ist ein Leben unter Aufsicht. Verschiedene Regelungen und Abläufe prägen den Alltag.

„Guten Morgen. Der heutige Tagesablauf ist wie folgt…“, so tönt es frühmorgens an jedem Werktag aus einem der Lautsprecher in den Abteilungen des Gefängnisses. Frühstück wird ausgeteilt: Butter, Marmelade und Brot. Morgens früh aufstehen, acht Stunden arbeiten und sich abends beim Fernsehschauen erholen – an dieses für die meisten Menschen alltägliche Leben müssen sich Straffällige häufig erst gewöhnen. Viele haben in ihrem bisherigen Leben keinen strukturierten Tagesablauf kennengelernt. Ein regelmäßiger Arbeitsalltag, der idealerweise die individuellen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Neigungen der Gefangenen berücksichtigt, ist der erste Schritt in ein straffreies Leben. Doch ob der Jugendknast dabei hilft? Trotz vieler Maßnahmen wie Ausbildung, Anti-Gewalt Trainings oder Kompetenzkursen ist die „Erziehung“ untereinander ein Aspekt, auf den die Fachdienste und der Allgemeine Vollzugsdienst (AVD) wenig Einfluss haben. Subkulturelle Tätigkeiten zwischen den Gefangenen werden in der „Mangelwirtschaft“ Vollzug wichtig. Tabak ist eine der inoffiziellen Währungen.

Nichtsdestotrotz gibt es für King auch gute Rückmeldungen ehemaliger Inhaftierter. „Das hat mir gutgetan, als Sie damals sagten, dass ich den Horizont nicht verlieren soll“, sagte jüngst ein Anrufer, der 6 Jahre in der JVA einsaß. Als Gefängnisseelsorger versuchen King und sein evangelischer Kollege den Blick weiter zu fassen als bis zur nächsten Mauer. Wer immer „Gott“ sein mag, vielleicht gibt es für manche Inhaftierte auch eine andere “Größe”, die weiterhilft und weiterführt. Die Gefängnisseelsorge ist eines der ältesten pastoralen Felder der Kirche(n). Sie ist sich der Verantwortung für den Rechtsstaat und der Loyalität ihm gegenüber bewusst. Die Länder als Justizorgane in den staatlichen Einrichtungen erachten die Gefängnisseelsorge als ein unersetzlicher Teil der gemeinsamen Aufgabe zur Resozialisierung. Der Fachdienst „Seelsorge“ hat eine wichtige Aufgabe inne.

Wechselspiel zwischen Kinderheim, erweiterter Familie und Knast

Die inhaftierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 14 bis ca. 24 Jahre kommen zum größten Teil aus unterschiedlichen Migrationshintergründen. Sie sind laut King ihren kulturellen- und religiösen Verbindungen entwurzelt worden. Sie erinnern sich wenig oder nur durch Erzählungen an ihre Wurzeln oder besinnen sich erst durch ihre Inhaftierung wieder auf ihre Herkunft. Manche haben in ihrer Kindheit ein Wechselspiel zwischen Oma, Stiefvater, der leiblichen Mutter, Aufenthalte in Kinderheimen oder Kinder- und Jugendpsychiatrien sowie Jugendhilfe-Maßnahmen im Ausland hinter sich.

King ist sich sicher: Aus den Biographien der Jugendlichen und deren Delinquenzen wird deutlich, dass sie eine Unzahl an Entbehrungen und Benachteiligungen, Naivität und Sorglosigkeit, Aggressionen und Beeinflussungen ausgesetzt waren und sind. Mangelnde Zuwendung, zerrüttete Familien, Kulturschock, keine oder nur eine bruchstückhafte Schulbildung haben sie gelehrt, ihren Mangel durch zweifelhafte und schließlich kriminelle Strategien zu kompensieren. Jugendliche Täter sind oft selbst Opfer geworden, so King. Das mag vielleicht ein Weg sein, sich eine eigene Welt zu schaffen, sich denen zu entziehen, die mit ihren Schlüsseln Zugang zu den Türen haben. Auch die Gefängnisseelsorger gehören dazu. Ob die Schlüssel zum Zugang eines Jugendlichen mit Empathie und mit Sensibilität passen, erweist sich im konkreten Miteinander.

Ansprechpartner:in und Beziehungspunkt

Seelsorger:innen im Jugendgefängnis sind in erster Linie für die Inhaftierten da. Doch sie verstehen sich ebenso als Ansprechpartner:in für die Bediensteten. Die Gespräche „zwischen Tür und Angel“ im Dienstzimmer sind wichtige Beziehungspunkte. Die Rechte, Freiheiten, Bezüge und Kontakte, mit denen die Anstaltsseelsorge ausgestattet ist, können aber auch Anlass zur Sorge, für Ängsten und für Verschlossenheit sein. Denn die Seelsorge steht im Organigramm auf der Ebene direkt neben der Anstaltsleitung. Können Seelsorger:innen, die manchmal eher in die Reihe der salbungsvollen „Gutmenschen“ eingeordnet werden, loyale Gegenüber sein? Solche Vermutungen beschäftigen manchen Gefangenen oder umgekehrt auch entsprechend die Vollzugsbediensteten. Transparenz und Beziehungsarbeit zu den Diensten im Vollzug sind laut King vertrauensbildend und bilden ein gutes Fundament für Kooperationen und Zusammenarbeit.

Für die inhaftierten Jugendlichen sind mit der Seelsorge viele Hoffnungen verbunden, was die Seelsorge alles für sie erreichen könnte. Allgemein erwarten die jungen Leute, dass sie einen Menschen mit Verständnis und Mitgefühl antreffen. Der Vertrauensvorschuss, dass die Gefängnisseelsorge der Schweigepflicht unterliegt, ist kostbar und schutzbedürftig. Das Gefängnis ist mit all den harten Geschichten ein Ort der permanenten Krise, an dem alle – Jugendliche und Vollzugsmitarbeiter:innen – oft unter großer Anspannung arbeiten. Die kollegiale Atmosphäre der Mitarbeiter:innen und deren hohe Eigenverantwortlichkeit sowie die sozialen Maßnahmen mit den Inhaftierten entspannen die Stimmung merklich.

Die Aufgabe der Seelsorge ist laut King nicht die Missionierung zum christlichen Glauben. Schon gar nicht in einem Umfeld mit einem hohen Anteil an muslimischen Gefangenen. Mit besonderer Freiheit und erwünschter Zusammenarbeit können sich Gefängnisseelsorger:innen neuen Facetten der Ökumene im umfassenden Sinne zuwenden. Auf solch einer Grundebene gilt es, Konflikte, die es unweigerlich aufgrund der jeweils unterschiedlichen Blickwinkel gibt, zu lösen und auszufechten. Aufgabe der Seelsorger:innen ist, auch in der harten und rauen Umgebung die menschlichen und leisen „Zwischentöne“ der unterschiedlichen Beteiligten zu entdecken und ihnen Raum zu geben. Dass es dabei zu unterschiedlichen Einschätzungen kommt, Dinge entstehen, welche die jeweils andere Seite wenig nachvollziehen kann, wird immer Realität bleiben, so King. Er sieht seine Tätigkeit als herausfordernde und erfüllende Aufgabe.

Michael King betreibt die Website der Gefängnisseelsorge unter: https://gefaengnisseelsorge.net

 

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