Die Bilanz nach mehr als 42 Jahren reformiertem Strafvollzugsgesetz, das den Gedanken der “Resozialisierung” vorrangig vor dem der Sicherheit sah, ist mehr als ernüchternd: Konzepte eines humanen Strafvollzugs treten dramatisch in den Hintergrund zugunsten eines generellen “Law-and-order-Denkens” und in dessen Folge zugunsten von millionenschweren Hochrüstungen der Sicherheit in den Vollzugsanstalten.
Diesen Satz habe ich aus der Einladung zu meiner persönlich allerersten ersten Jahrestagung der Gefängnisseesorge aus dem Jahre 2004. Sie fand statt im Kloster Reute und ich habe nur eine Zahl verändert 42 – statt damals 25 Jahre: “Geopfert auf dem Altar der Sicherheit.“ So lautete der damalige Titel. Die heutige Jahreskonferenz ist ebenfalls zu diesem Thema „Sicherheit“ eröffnet, erweitert um die Frage nach der „Dynamiken“ die vom Sicherheitsdenken ausgelöst werden. Das Thema „Primat der Sicherheit“ besteht also nach wie vor und es stellt sich die Frage, was ihr denn „geopfert“ wird, oder ersetzen wir diese theologische Sprache durch die Formulierung, was bleibt da auf der Strecke? Oder noch allgemeiner, was muss denn nun hinten anstehen, hinter der Sicherheit?
Es ist – immer noch in den meisten Bundesländern genannte ERSTE Vollzugsziel neben der Sicherheit – die Resozialisierung. Ein deutschamerikanischer Gefangener, der das Wort „Resozialisierung“ nicht verstand, übersetzte es mit „recivilization“, also wie man wieder in das zivile Leben gelangt. Zwar kann man mit diesen Themen keine Wahlen gewinnen, doch nach der Bundestagswahl darf man durchaus sagen: Vergesst das Thema Wiedereingliederung nicht bei euren Koalitions-, Ampel- und Jamaika-Verhandlungen nicht! Bei einigen, eher kleinen Parteien, findet man dazu durchaus etwas in den Programmen. Resozialisierung im Strafvollzug ist die größte Sicherheit! Ja. Warum eigentlich nicht?
Gemeinsam lösen – sofort anfangen
Ich möchte drei Beobachtungen mitteilen. Erste Beobachtung: In einigen Ländern ist man sich einig, wir wollen für unsere Kinder eine gute Bildung. Wir wollen aber auch: Wer in Haft kommt, soll besser wieder herauskommen als er oder sie hineingekommen ist. Und das lassen wir uns etwas kosten. Da gibt es gleich in der ersten Woche eine Zugangskonferenz: Was ist Ihr Problem? Job? Gesundheit? Alkohol? Gewaltbereitschaft? Schwere Kriegstraumatisierung? Und wie können wir es gemeinsam lösen und wir fangen sofort damit an. Ab heute.
In Deutschland ist es umgekehrt: In der Haft kann man sich ganz anders perfektionieren: Im Drogenhandel und technischen Fertigkeiten des Einbruchs. Das betrifft auch Leute die eigentlich nur eine Geldstrafe absitzen müssen, die lernen im Knast Sachen, von denen sie zuvor nie etwas geahnt haben. Wie also wäre es mit einer Berufsausbildung? Dazu muss man dann Geld in die Hand nehmen. Das wäre ein Beitrag zur „langfristigen Sicherheit“ für die Gesellschaft und den einzelnen!
Sicherheitsdenken mit Unbehagen
Zweite Beobachtung: Hat sich was getan seit 2004? Meine Antwort: Ja, aber… Ja: das Sicherheitsdenken hat weiterhin zugenommen: Stichwort sind Videoüberwachung, höherer Kontrolldruck in den Anstalten, dem auch diejenigen in gleicher Weise unterliegen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe abzusitzen haben. Ja, aber: Es gibt ein „Unbehagen“, das sich aus den unterschiedlichsten Richtungen artikuliert. Ich nenne drei Stimmen aus dem Umfeld des Justizvollzuges von Praktiker und Praktikerinnen:
- Ein Vordenker ist Thomas Galli, mit seinem Buch „Weggesperrt“. Einstiger Anstaltsleiter, der weiß wovon er spricht.
- Ein leitender Beamter des Allgemeinen Vollzugsdienstes spricht selbst von „Übersicherung“, nicht mehr von „Sicherung“, ja sogar von „Sicherheitswahn“, durchaus reflektiert und selbstkritisch.
- Eine breite Initiative der Bundes-Straffälligenhilfe (BAGS), immerhin der der beiden Gefängnisseelsorge-Konferenzen mit Unterstützung aus den großen Kirchen mit Diakonie und Caritas zu Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe, vorgelegt der Justizminister-Konferenz im Juni 2021 – abgewiesen zwar – trotzdem.
Ausführung zur Beerdigung: Abgelehnt!
Eine dritte Beobachtung: Die Seelsorgepersonen (diesen Begriff habe ich in der Schweizer theologischen Fachliteratur gefunden) im dem Beruf der eigenen Spannungsfelder zwischen Sicherheit und Resozialisierung, zwischen Glaube und harter Realität, tätig an den Schnittstellen von Leben und Tod im Gefängnis, die ein hartes, ja nicht selten „überhartes“ Vorgehen im Gefängnis beobachten müssen. Ich nenne ein Beispiel, das mir eine Seelsorgerin berichtete: Ein Mann 63, 2 Jahre Haft, intaktes Umfeld, erfährt vom überraschenden Tod seiner Ehefrau, mit der er seit 40 Jahren verheiratet, glücklich verheiratet ist. Er ist schockiert. Eine Ausführung zur Beerdigung wird abgelehnt, denn die JVA ,in der er untergebracht ist, führt grundsätzlich keine Ausführungen zu Beerdigungen durch. Aus Sicherheitsgründen wird ihm gesagt.
Auf Nachfrage: Die begleiteten BeamtInnen könnten angegriffen werden. Die Folgen für diesen Mann sind aus menschlicher und seelsorgerlicher Sicht dramatisch: Abschiednehmen wird ihn sehr erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht. Die Seelsorgerin ermöglicht jedoch im Gespräch mit den Verantwortlichen einen Besuch im Trauerzimmer des Bestattungsinstituts, bei dem sie ihn begleitet. Die Tatsache dieses Besuches wird weiterhin verwendet um zu begründen, dass er nun ja nicht mehr zur Beerdigung müsse, da er ja auf diesem Wege nun bereits habe Abschied nehmen können. Die Seelsorgerin bot dem Gefangenen, parallel zu der Beerdigung in der Anstaltskirche eine Trauerfeier zu gestalten, was der Mann annahm. Das war ihm wertvoll.
Beitrag zur inneren Sicherheit
Die Seelsorgerin folgte mit ihrem Einsatz ihrem seelsorgerlichen Auftrag, zu dem ihre Kirche sie ausgesandt hatte und dem sie sich verpflichtet weiß. Sie leistet so einen doppelten Beitrag zur „inneren Sicherheit“: Zunächst für den trauernden Gefangenen, aber auch für die innere Sicherheit in der JVA. Das ist nichts Neues und auch keine Ausnahme. Die Seelsorgerin tut, was alle GefängnisseelsorgerInnen tut: Die Erinnerung an den Gedanken der Resozialisierung wachhalten, sie behält das Menschliche im Blick, lotst Spielräume aus, gibt dem Betroffenen Raum und Zeit und mildert Härten ab. Dennoch fragt sich die Kollegin, zwar besser als nichts, aber vielleicht doch auch zu wenig?
Zusammengefasst: Das angesprochene „Unbehagen“ des ehemaligen Anstaltsleiters, des leitenden Vollzugsbeamten, der Straffälligenhilfe und der Gefängnisseelsorgerin zeigen an: Da muss sich etwas tun und vielleicht ist es schon im Gange. Vielleicht löst sich irgendwann so manche Fessel, die wir oft zuerst im Kopf haben, wie bei Petrus in Apostelgeschichte 12, der durch einen Engel in Freiheit gelangte, so dass auch die Wiedereingliederung wieder mehr Raum bekommt, mit Gottes Hilfe.
Grußwort von Pfarrer Igor Lindner am 4. Oktober 2021 zum Tagungsthema:
„Sicher ist sicher? Dynamiken in Justiz und Gesellschaft. Seelsorge im Justizvollzug und nun?“