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Gewänder sind an manchen Stellen dünn und fadenscheinig

28. Oktober 2024

Bartimäus saß, wie andere Menschen mit Behinderungen, in der Nähe des Stadttores. Er gehörte zu den Menschen am Rand. Er war der Hilfe bedürftig, konnte den Lebensunterhalt nur sichern, wenn er bettelte und man sich seiner erbarmte. Für die Hüllen jedes Bettlers, also den Mantel oder das Gewand, wurde gesorgt. Denn niemand durfte nackt sein. Und dass jeder zu Essen hatten, etwas zum Magen füllen, dazu waren die Menschen im Namen ihrer Religion als Geber verpflichtet. Wer bettelte war be-dürftig.

Mir will diese Figur des Bartimäus gar nicht so bedürftig erscheinen. Ich bin von Beginn der Geschichte an diesem Bartimäus zugetan. Der Evangelist Markus sorgt dafür, dass ich meine, ihn zu kennen. Er sagt, es handele sich um den Sohn des Timäus. (Bar-Timäus). Er ist also kein Unbekannter in Jericho. Bartimäus schrie. Er schrie so laut, dass man ihn zum Schweigen mahnte. Wer so laut schreit, der nervt. Wer so laut schreit, ist keinesfalls demütig und er erwartet nicht nur ein paar Geldstücke oder ein Stück Brot. Wer so laut schreit, als hänge sein Leben davon ab, der will mehr. Dieser hier, Bartimäus, schreit den herbei, dessen Botschaft schon längst nach Jericho gekommen ist. Er, der „Sohn des Timäus“ schreit den „Sohn Davids“ herbei.

Franz von Assisi

Und je mehr man den Schreihals zum Schweigen bringen will, um so lauter wird er. Was für ein kraftvoller Mensch dieser Bartimäus ist. Und dann zieht Bartimäus mich gänzlich in seinen Bann, als er auf sein Schreien hin ermutigt wird, zu Jesus zu kommen. „Er ruft Dich“ (DICH). Markus erzählt: „Da warf er den Mantel ab“. Er warf den Mantel ab, und rannte auf Jesus zu. Aber ohne den Mantel ist Bartimäus nackt. Er provoziert einen Skandal. Zwölf Jahrhunderte später tritt ein anderer Sohn, der „Sohn des Pietro“, später bekannt als Franz von Assisi auf. Im Jahr 1181 in Assisi geboren soll Franziskus auf dem Marktplatz in Assisi verurteilt werden, weil er den Vater bestohlen hat. Auf dem Marktplatz in Assisi steht er. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Er zieht seine Kleider aus und wirft sie seinem Vater vor die Füße. Und er steht nackt da. In einer Biografie lese ich: „Franziskus so splitternackt dastehen zu sehen, muss für die Menschen ein gewaltiger Schock gewesen sein. Nicht weil sie moralisch entrüstet waren, sondern weil die Botschaft dieses Aktes so körperlich eindringlich war. Franz ist nackt wie ein kleines Kind. Als ob er neu geboren werden würde. Buchstäblich kein Faden mehr verbindet ihn mit seinem alten Leben.“ (S.67 Alois Prinz, Franz von Assisi, Tierschützer, Minimalist und Friedensstifter, 2023 Gabriel).

Christus anziehen

Es heißt, jemand habe ihm schnell das schäbige Gewand eines Gärtners über geworfen. Von Bartimäus wissen wir Ähnliches nicht. Eine andere Geschichte, keine vergleichbare, denken Sie? Für mich verbinden sich beide Mantelgeschichten. Bis weit ins Mittelalter hinein galt: Unter wessen Mantel man steht, der ist Herr und Schutzherr. Wer seinen Mantel abwirft, beendet radikal das bisherige Leben und bezieht sich nur noch auf die eigene Haut. Er macht sich nackt. Er gibt zu erkennen, wer er ist. Nicht, in welcher Beziehung er ist. Er ist frei. Er kann von sich sprechen. Ich! Er weiß wer er ist. Er kann angesprochen werden: „Jesus ruft Dich!“ „Er ruft DICH!“ Er meint Dich, Bartimäus. Dich Franzikus. Du bist gemeint! Bartimäus und Franziskus, zwei Söhne, für die der Mantelabwurf wie ein „Sprung in die Freiheit oder ein Gefühl von Lebendig-sein“ ist. (Alois Prinz). Beide befreien sich von ihrem bisherigen Leben. Auch der Bettler Bartimäus, der längst vor dem Öffnen der Augen, Jesus erkannt hat. Und indem beide Jesus folgen, gehen sie eine neue Kindschaft und Sohnschaft ein mit dem Gott Jesu und werden Geschwister. Sie haben „Christus angezogen“, so nimmt später Paulus das Bild des Gewandes auf, als er an die Gemeinde in Galatien schreibt im Hinblick auf die, die sich als ZeugInnen zu Jesus bekennen. (Galater 3, 27-28).

Gewänder sind dünn

Ob Sie oder ich solche Geschichten von sich erzählen können, wenn es um den Ruf Jesu geht: Er ruft Dich! Und Dich! Und Sie! Wir sind hier, weil wir Geschwister des Jesus aus Nazareth sind, sprich Christus angezogen haben. Vermutlich die meisten von denen, die hier sind, haben Christus angezogen, als sie getauft wurden. Und wer weiß, wie Menschen außerdem zu ihrem Christuskleid gekommen sind. Die Gewänder Christi werden uns nicht wie Schaffelle einhüllen, uns nicht besser schützen, als sie Christus selbst geschützt haben. Sie sind an manchen Stellen dünn und fadenscheinig. Wir bleiben berührbar. Im Christusgewand können wir unterwegs sein als AnwältInnen der Menschen, unabhängig von unserer eigenen und deren Herkunft, von Geschlecht, sexueller Orientierung und sozialem Status. Dann lassen Sie – lasst uns – auch so leben. Aus Über-Zeugung.

M. Hagenschneider | Mk 10, 46b-52

 

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