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Die Strafe als Herrschaftsmechanismus

18. Januar 2022

Zum Gefängnis als Ort der Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse.

Das Gefängnis hat sich in der Moderne als die vorherrschende Form staatlicher Sanktionierung von Gesetzesbrüchen herausgebildet. Die Verurteilten werden durch die Inhaftierung in Gefängnissen einerseits aus der Gesellschaft ausgeschlossen und andererseits in ein „delinquentes Milieu“ eingeschlossen. Das Strafmaß ist die Zeit geworden, die ein Mensch in Haft zu verbringen hat. Ansonsten sollen die Lebensbedingungen innerhalb des Gefängnisses den Lebensbedingungen außerhalb der Gefängnismauern möglichst angeglichen werden.

Das vorrangige Ziel der Inhaftierung besteht in der Resozialisierung der verurteilen Täter. Erkenntnisse aus der Verhaltenstherapie, der Psychoanalyse und der Lerntheorie legten in den 1960er Jahren nahe, dass Faktoren, die stark mit der Sozialisation der Täter in Verbindung stehen, straffälliges Verhalten begünstigen. In den 1970er Jahren avancierte die Idee der Resozialisierung zum zentralen Paradigma des Strafvollzugs. Im Strafgefangenen-Urteil aus dem Jahr 1973 definierte das Bundesverfassungsgericht Resozialisierung als „Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft“ und erklärte sie zum „herausragenden Ziel“ des Strafvollzugs. Die inhaftierte Person hat seither einen Anspruch auf Maßnahmen der Resozialisierung, die ihm oder ihr ermöglichen sollen, ein Leben in „sozialer Verantwortung“ und „ohne Straftaten“ zu führen. Das Resozialisierungsgebot folgte dem wohlfahrtsstaatlichen Paradigma, demzufolge die Ursachen für Kriminalität nicht allein im Täter, sondern auch in der Verfasstheit der Gesamtgesellschaft zu suchen sind. Daher umfasst der Begriff der Resozialisierung Maßnahmen, die sich außerhalb des Vollzugs abspielen und darauf abzielen, weitere Straftaten durch Sozialarbeit und die Betreuung ehemaliger Inhaftierter zu verhindern.

Der „Täter“ wird dieser Sichtweise zufolge als Normbrüchiger verstanden, dem eine mangelnde „Sozialisation“ beziehungsweise Integration in die Mehrheitsgesellschaft unterstellt wird. Der darin fortlebende Besserungsgedanke wurde bereits von Denkern der Aufklärung kritisch hinterfragt, die ihn für moralisierend erachteten, daher die Menschenwürde in Gefahr sahen und die Reduktion der Strafe auf die Vergeltung der Tat forderten.

Eine andere Wendung nahm diese Kritik bei Michel Foucault, der Resozialisierungsbemühungen im Sinne der „Besserung“ als Formen der Normierung und Regulierung beschrieb, die bis in die Seele des Inhaftierten vordringen und damit eine noch umfassendere und tiefgreifendere Form des Eingriffs darstellen als körperliche Strafen. Insofern ist heute auch fast unumstritten, dass Resozialisierungsmaßnahmen niemandem aufgezwungen werden dürfen, sondern einen freiwilligen Charakter haben müssen. Derzeit gerät das Resozialisierungsparadigma durch den Aufschwung des Sicherheitsgedankens (Prävention) immer stärker in Bedrängnis. Maßnahmen, die dazu erforderlich sind, eine Reintegration in die Gesellschaft vorzubereiten – beispielsweise im Rahmen von Haftlockerungen und Freigängen –, stehen zuweilen in einem Zielkonflikt mit dem Bestreben, zukünftige Straftaten durch ein hohes Maß an sozialer Kontrolle und Überwachung präventiv zu verhindern.

Ohnehin dauert die gesellschaftliche Sanktionierung gegenüber ehemaligen Inhaftierten auch nach der durch den Freiheitsentzug abgegoltenen Strafe an und erschwert damit, ein Leben ohne Straftaten integriert inmitten der Gesellschaft zu führen. Dies lässt sich an diversen Schwierigkeiten festmachen, mit denen sich ehemalige Inhaftierte konfrontiert sehen, beispielsweise nach der Entlassung eine eigene Wohnung zu finden, eine Arbeit aufzunehmen oder das soziale Netz aus der Zeit vor der Haft zu reaktivieren. Hinzu kommen geringe Rentenansprüche und kein oder wenig Anspruch auf Arbeitslosengeld als Folge langjähriger Inhaftierung. Dieser Überschuss der Strafe über ein klar definiertes Strafmaß hinaus betrifft nicht nur den oder die Inhaftierte selbst, sondern auch deren Angehörige. Die Vorstellung einer exakt berechenbaren, humanen und gerecht zu verteilenden Strafe, wie Reformer des 18. Jahrhunderts das moderne Gefängnis als Zukunftsvision zeichneten, erweist sich aus heutiger Sicht als ein Trugbild, das über das tatsächliche Ausmaß der Effekte von Inhaftierung hinwegtäuscht.

Ein weiteres Trugbild über das Gefängnis besteht in der weit verbreiteten Annahme, die Strafmaßnahme der Inhaftierung betreffe alle Bürger gleich. Vielmehr findet sich in den Haftanstalten ein spezifisches Segment der Gesellschaft, welches nicht die Gesamtbevölkerung, sondern den unteren Teil ihrer vertikalen Stratifikation spiegelt. Hierfür lassen sich verschiedene theoretische Erklärungsansätze der Kritischen Kriminologie heranziehen. Aus einer konflikttheoretischen Perspektive heraus dient das Strafrecht dazu, bestehende soziale Verhältnisse durch eine selektive Anwendung des Rechts zu verfestigen. Ihr zufolge haben unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen einen unterschiedlichen Zugang zum Recht. Auf einer übergeordneten Ebene stellt sich zudem die Frage, welche Handlungen überhaupt als kriminell eingestuft und strafrechtlich verfolgt werden. Gemäß der Etikettierungsperspektive lassen sich keine Handlungen identifizieren, die an sich verbrecherisch sind. Vielmehr werden gewisse Handlungen als „kriminell“ etikettiert und erst durch diesen Prozess der Zuschreibung als solche konstruiert. Auf einer formalen Ebene, so argumentieren Vertreter der Critical Legal Studies, behandelt das Recht die Menschen als Gleiche. Jedoch sei der Gesetzestext stets offen für unterschiedliche Deutungen. So lasse sich die Sprache des Rechts leicht manipulieren und basiere letztlich auf kontingenten Entscheidungen der Richter*innen. Dies führe regelmäßig zur Benachteiligung von marginalisierten Gruppen wie Homosexuellen, Schwarzen, Frauen und Mitgliedern der Arbeiterklasse.

Diese kritischen Ansätze des Strafrechts analysieren „Verbrechen“ daher nicht vorrangig als autonome Handlungen eines freien Individuums, sondern als Produkte von sozialen Machtbeziehungen. Und zwar in zweierlei Hinsicht: erstens in Bezug auf dasjenige, was überhaupt als krimineller Akt zählt und verfolgt wird, und zweitens in Bezug darauf, wie Strafrecht angewendet wird. Kriminalität als „Unrecht“ ist demnach keine metaphysisch zu bestimmende Kategorie. Vielmehr ist der Prozess der Kriminalisierung einer der diskursiven Zuschreibung. In diesem Sinne ist die Kriminalisierung von Sachverhalten auch stets ein Prozess der Verschleierung von gesellschaftlichen Interessenskonflikten im Gewand des formalisierten Rechts. Die Annahme der rechtlichen Gleichheit ist jedoch eine zentrale legitimatorische Grundlage des bürgerlichen Rechtsstaats, der auch für dessen emanzipatorischen Gehalt unumgänglich erscheint. Eine kritische Perspektive auf das Gefängnis sollte daher die Arten und Weisen in den Blick nehmen, wie sich strafrechtliche Institutionen zu den herrschaftsförmigen Beziehungen innerhalb einer Gesellschaft verhalten und ob sie dazu dienen, diese abzusichern oder gar zu verschärfen. Ignoriert das Strafrecht diesen Zusammenhang, dann agiert es auf eine falsche Weise differenzblind – und zwar blind für die eigenen Differenzierungen, die es im sozialen Gefüge selbst verursacht.

In einem ersten Schritt wird dieser Artikel daher kursorisch die Genese und Spezifika von Gefängnissen im spätmodernen, neoliberalen Kapitalismus skizzieren. In einem zweiten Schritt folgt auf der Basis bestehender empirischer Sozialforschung eine intersektionale Analyse, wie und auf welche Weise der Strafvollzug in Deutschland vorhandene soziale Schichtungen reproduziert.

Vision von humanen, effizienten und rentablen Strafinstitutionen und die Neuerfindung des Strafens in der Spätmoderne

Bereits im 18. Jahrhunderts, zur Zeit der Industrialisierung, bemühten sich Reformer wie Cesare Beccaria und Jeremy Bentham um eine Neugestaltung des Strafvollzugs. Benthams Schriften zur Rechtfertigung und zu den Zielen des Strafens wurden bis auf seine Briefe über das Panoptikon, die insbesondere durch die Rezeption seitens Foucaults weitere Bekanntheit erfuhren, in der Straftheorie nur wenig rezipiert, obgleich sie viele Elemente unseres neuzeitlichen Umgangs mit staatlichen Strafen vorwegnehmen, insbesondere im Rahmen einer neoliberalen Überformung des Strafvollzugs. Bentham setzt sich von den klassischen Rechtfertigungsstrategien der Strafe in der Aufklärung ab, die sich auf das Talionsrecht beziehen und Strafe als Vergeltung für vergangenes Unrecht bestimmen.

Er schreibt der Strafe dagegen eine zukunftsbezogene, nutzenorientierte Funktion zu: Strafen sollen Verbrechen, und damit „Übel“, verhindern und dadurch die Glückseligkeit der Menschen maximieren. Die Anwendung von Strafen soll danach ausgerichtet werden, wie sie Lust und Schmerz beim Menschen evozieren und dadurch auf dessen Willen einwirken. Bentham geht von einem strikt rational handelnden Individuum aus, das sich bewusst für seine Taten entscheidet. Das durch die antizipierte Strafe verursachte Leiden muss demnach die Lust überwiegen, die durch den Gesetzesbruch erzeugt wird.

Bentham entwickelt ein architektonisches und zugleich ökonomisches Modell, mithilfe dessen er seine Straftheorie umgesetzt sehen möchte. In seinen Briefen über das Panoptikon spezifiziert Bentham, wie er sich seine neuartigen, privat geführten Gefängnisse vorstellt: Mithilfe einer intelligent ausgeklügelten Architektur sollen dem Inhaftierten und Gefängnispersonal das permanente Gefühl der Kontrolle vermittelt werden. Durch die gute Übersichtlichkeit eines eigens dafür entwickelten konzentrischen Gefängnisbaus und kurzer Wege möchte Bentham Personal einsparen und die Ausbruchsgefahr der Inhaftierten verringern. Geführt werden sollen Haftanstalten zukünftig als profitorientierte Unternehmen. Das Gefängnis funktioniert in Benthams Vision nämlich per Vertrag zwischen Staat und Vertragsnehmer auf privatwirtschaftlicher Basis. Die jeweilige Geschäftsführung dieser Institution soll der Öffentlichkeit regelmäßig Rechenschaft abgeben.

Um die Wirtschaftlichkeit dieser Gefängnisse zu gewährleisten, muss jeder Gefängnisinsasse während seiner Haftzeit arbeiten. Der Unternehmer zielt wiederum auf Profit und bedarf daher einer optimalen Nutzbarmachung der Kauf- und Arbeitskraft der Inhaftierten und einer kosteneffizienten und personalsparenden Führung. Seinen geringen Lohn kann und soll der Inhaftierte wiederum innerhalb der Gefängnismauern bei einem Geschäft, welches über das Monopol aller angebotenen Waren verfügt, in die Gefängnisökonomie rückführen. Damit antizipiert Bentham den Versuch in neoliberal orientierten Staaten, den Gefängnissektor im 20. Jahrhundert zu privatisieren und dadurch einen eigenen Industriezweig zu schaffen.

Foucault, der sich intensiv mit Benthams Schriften befasst hat, untersucht die Genese der modernen Strafinstitutionen. Seiner Analyse zufolge setzt sich das Gefängnis in der Wende vom späten 18. zum 19. Jahrhundert im Rahmen der Entwicklung der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft als dominante Strafgewalt durch. In dieser Zeit entsteht eine „Ökonomie der Strafgewalt“, deren Ziel es ist, ganz im Sinne Benthams, die Strafe effizienter einzusetzen und systematisch zukünftige Straftaten zu verhindern.

Der in den Haftanstalten praktizierte Arbeitszwang soll dazu dienen, aus den Internierten pflichtbewusste und arbeitswillige Bürger zu formen. Jedoch scheiterte Foucault zufolge das Gefängnis an seinem Anspruch der Besserung und Erziehung der Internierten. Vielmehr entwickelte es sich zu einem Ort, an dem systematisch Delinquenz hervorgebracht wird: Durch die Unterwerfung unter Zwänge, Machtmissbrauch durch schlecht geschultes Personal und die Einschließung in kriminelle Milieus und die durch sie verursachten Hierarchien. Damit widerspricht er Benthams optimistischer Vision des Gefängnisses als eines Ortes der Reue und Besserung. Aus Gelegenheitsverbrechern würden hier vielmehr Gewohnheitsdelinquenten, die im Verbrechen geschult sind.

Doch wie lässt sich erklären, dass das Gefängnis trotz hoher Rückfallquoten mit seinem resozialisierungsfeindlichen Klima seit dem 18. Jahrhundert überlebt? Foucaults Pointe liegt darin zu behaupten, dass die eigentliche Funktion des Gefängnisses gar nicht in der Besserung der Täter oder in der Prävention zukünftiger Straftaten liege, sondern vielmehr in der Regulierung und Nutzbarmachung von Delinquenz zu suchen sei. So ließen sich während und nach der Haft Gewinne abschöpfen, beispielsweise in stark prekarisierten und illegalen Milieus, wie der Prostitution, dem Waffen- und dem Drogenhandel, die der besitzenden Schicht zugute kämen. Zudem entwickelt sich mit dem Gefängnis eine „Normalisierungsanlage“ der Disziplinierung von Menschen, die sich auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen anwenden ließe. Das Prinzip der beständigen Überwachung und der Unterwerfung in regulierte Tagesabläufe führe zu Formen der permanenten Selbstdisziplinierung, welche eine besonders effiziente Form darstelle, Menschen zu kontrollieren und zu formen. Das Gefängnis wird damit zu einem emblematischen Ort der Moderne, nach dem sich Bildungs- und Sozialeinrichtungen, Medizin und Psychatrie ausrichten.

Der US-amerikanische Rechtssoziologe David Garland untersucht in seiner an Foucaults Erkenntnissen angelehnten Studie „Kultur der Kontrolle“ (2001) die Strafpolitik der Spätmoderne in den USA und Großbritannien, wobei er vermutet, dass sich diese Ergebnisse auch auf andere westliche Länder übertragen lassen. Ihm zufolge kam es in den letzten Jahrzehnten zu einem Zurückdrängen des wohlfahrtsstaatlichen Paradigmas der sozialen Fürsorge und der Resozialisierung. Einher ging diese Trendwende mit der starken Betonung der Eigenverantwortlichkeit von Individuen und einem Ruf nach verschärfter Bestrafung von sozialer Devianz seitens der Bevölkerung. Unter diesen Rahmenbedingungen fungiert die Strafpolitik als neue Form der Regierungstechnik, um auf Ordnungsprobleme zu reagieren, die angesichts verschärfter sozialer Ungleichheiten entstehen: „Man braucht ein ,zivilisiertes’ und ,verfassungsmäßiges’ Mittel, um die problematischen Bevölkerungsschichten, die im Zuge der heutigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse entstehen, abzusondern.“ Das Gefängnis versammelt Garland zufolge Menschen, die im stark wettbewerbsorientierten kapitalistischen System westlicher Länder keinen Platz finden, denen die soziale Fürsorge versagt wird und die so für die Gesellschaft nicht gefährlich werden können. Diese „punitive Segregation“ äußert sich in langen Haftstrafen und Formen der Überwachung, die selbst nach dem Gefängnisaufenthalt fortdauern.

Die Haftanstalt bewegt sich der Punitivitätsthese folgend weg von einer Institution, die auf die Wiedereingliederung der Gefangenen ausgerichtet ist. Sie mutiert zu einem Ort der bloßen Verwahrung, einer Art „Reservat, einem Quarantänebereich“, der den Vergeltungsbedürfnissen einer breiten Schicht der Gesellschaft gegenüber ihren Außenseitern offen entspricht. Für diese Diagnose gibt es verschiedene Erklärungsansätze: Eine Ursache hierfür sieht David Garland in den hohen Kriminalitätsraten der 1960er und 1970er Jahren in Ländern wie den USA und Großbritannien, die zu Ängsten der sonst liberal eingestellten Mittelschicht und zu einem Ruf nach einer schärferen Verbrechenskontrolle geführt habe. Loïc Wacquant identifiziert die Ursache hierfür dagegen in der neoliberalen Restrukturierung von Arbeitsverhältnissen und der damit einhergehenden Verunsicherung der Mittelschicht, die ein punitives Klima begünstige. Das Gefängnis wird diesen soziologischen Beschreibungen zufolge einerseits zu einem Mittel, diejenigen Bevölkerungsgruppen, die den Anforderungen einer auf Selbstoptimierung ausgerichteten Leistungsgesellschaft nicht mehr entsprechen, abzusondern und kontrollierbar zu machen. Andererseits dient es dazu, der Mittelschicht das Gefühl zu geben, hart auf jegliche Formen der Devianz zu reagieren und die bestehende Ordnung zu schützen. Das Gefängnis wird demnach zu einem Ort der „pönologischen Verbannung“.

Intersektionale Analysen der Gefängnispopulation in Deutschland

Doch wie verhalten sich diese Analysen zu der Strafrechtspflege in Deutschland, die sich weiterhin dem Paradigma der Resozialisierung und der sozialstaatlichen Orientierung verschreibt? Die Fragen, inwieweit Garlands gegenwartsdiagnostische Thesen zutreffen und ob sie auf andere nationale Kontexte übertragbar sind, haben eine breite und kontroverse Debatte auch in Deutschland ausgelöst. Im Folgenden beschränkt sich der Artikel auf die Überprüfung der These, inwiefern Haftstrafen tatsächlich zu einer punitiven Segregation von Menschen führen, die ohnehin benachteiligten Schichten angehören, und damit bestehende Machtbeziehungen fortschreiben. Dabei bewegt sich die Analyse entlang der Faktoren Klasse, Raceund Geschlecht. Diese intersektionale Analyse zielt darauf ab, die Verschränkungen zu markieren, die sich aus der jeweiligen klassen-, race- und geschlechterspezifischen Positionierung heraus ergeben und das Ineinanderwirken verschiedener strafrechtlicher Mechanismen auf allen diesen drei Achsen zu skizzieren.

Klassenspezifische Selektivität des Strafrechts

In Deutschland gehören neun von zehn Inhaftierten der Unterschicht an. Menschen aus der Unterschicht werden häufiger verdächtigt, angezeigt, beschuldigt und verurteilt als Mitglieder der Oberschicht: „Auf jeder Stufe ist der Strafverfolgungsprozess gegen Mitglieder unterer Schichten etwas intensiver und bietet ihnen weniger Schlupflöcher als Mitgliedern höherer Schichten […] Obendrein begehen die Mitglieder unterer Schichten typischerweise andere Straftaten als höher Gestellte. Diebstahl, Raub, Körperverletzung wird meist von Menschen aus unteren Schichten begangen. Betrug, Steuerflucht und Wirtschaftskriminalität sind eher die Sache der oberen Schichten. Damit einhergeht, dass typische Unterschichtsdelikte oft relativ klar definiert und leichter aufzuklären sind.“

Zudem lässt sich in Deutschland in den 1990er Jahren ein statistischer Zusammenhang zwischen erhöhter sozialer Ungleichheit, – steigenden Arbeitslosenzahlen und wachsender Armut – mit zunehmender, als solcher registrierter Kriminalität feststellen. Die soziale Spaltung innerhalb einer Gesellschaft geht einher mit verstärkter Kriminalisierung, unter anderem durch die erhöhte Anzeigebereitschaft von Bürgern in sozialen Konfliktfällen, und dem Anwachsen zusätzlicher Formen der sozialen Kontrolle. Der Prozess der Inhaftierung bedeutet für sozial schwächer gestellte Menschen häufig eine weitere ökonomische Abwärtsspirale. Viele Menschen finden nach ihrer Entlassung keine Arbeit (rund 45% nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit), keine Wohnung oder haben ihr soziales Netzwerk verloren. Die Begleitforschung zum „Projekt Chance“ zur Betreuung von entlassenen Straftätern ergab, dass von 251 der betreuten Gefangenen nur 34 nach ihrer Entlassung eine eigene Wohnung gefunden haben, währen 31 auf der Straße gelandet sind. Jede dritte entlassene Person wird laut Statistiken in den ersten drei Jahren rückfällig. Für viele Langzeitinhaftierte folgt aufgrund einer fehlenden Erwerbsbiographie zudem die Altersarmut mit geringer Rente und fehlenden Ersparnissen. Staatliches Strafen verschärft somit die sozial prekäre Lage vieler Inhaftierter und tut dies im Rahmen eines zunehmend wettbewerbsorientierten, auf individuelle Leistung hin orientierten gesellschaftlichen Klimas.

Race und strafrechtliche Verfolgung

Der Strafvollzug übernimmt in Bezug auf die Faktoren Race und Staatszugehörigkeit ebenfalls eine stratifizierende Funktion. Diese überschneidet sich häufig mit der jeweiligen Zugehörigkeit von Menschen zu einem ökonomisch schlechter gestellten Milieu. Menschen, die über keine deutsche Staatsangehörigkeit verfügen, sind in der Haft, insbesondere in Untersuchungshaft, überrepräsentiert: Insgesamt machen sie einen Anteil von 24,2% der Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten in Deutschland aus. Entscheidend hierfür sind unterschiedliche Faktoren, unter anderem die ethnospezifische Selektivität der strafrechtlichen Kontrolle. Dazu gehören „racial profiling“ im Rahmen von Polizeikontrollen gegenüber Menschen, die nicht den phänotypischen Merkmalen entsprechen, die der deutschen Mehrheitsgesellschaft zugesprochen werden, sowie die erhöhte Anzeigepraxis gegenüber ausländischen Tätern. Hinzukommt die Existenz von Delikten, die überhaupt nur von Ausländern – im rechtlichen Sinne verstanden als Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit – verübt werden können, beispielsweise die unerlaubte Einreise nach Deutschland. Ein weiterer Faktor könnte in der verschärften gerichtlichen Verurteilungspraxis gegenüber Nicht-Deutschen bestehen, die einige Studien nahelegen. So haben Untersuchungen von Ludwig-Mayerhofer und Niemann bei Jugendgerichtsverfahren eine signifikant erhöhte Sanktionshärte gegen Jugendliche aus der Türkei als gegenüber Deutschen festgestellt. Eine Untersuchung zur polizeilichen Verfolgung von Ladendiebstählen zeigte, dass Menschen mit türkischem oder ex-jugoslawischem Migrationshintergrund einer höheren Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sind, infolge eines Ladendiebstahls mit der Polizei konfrontiert zu werden. Gründe hierfür liegen nebst anderen Faktoren im „selektiven Verdachtschöpfen von Ladendetektiven und Verkaufspersonal“ bei Menschen, die für Ausländer gehalten werden.

Andererseits habenStudien aus den 1990er ergeben, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Verfahren eingestellt wird, bei nicht-deutschen Angeklagten höher als bei Deutschen ist. Dies wird unter anderem dadurch erklärt, dass die Staatsanwaltschaft, die um die erhöhte Anzeigebereitschaft gegenüber Ausländern (selbst bei Bagatelldelikten) weiß, dies dadurch auszugleichen versucht, dass sie Verfahren wegen Geringfügigkeit oder Mangel an Tatverdacht einstellt. Nichtsdestotrotz ist die Wahrscheinlichkeit, als in Deutschland lebender marokkanischer Mensch inhaftiert zu werden, acht Mal so hoch wie für Deutsche; als Person mit türkischer Staatsangehörigkeit ist diese Chance vier Mal so hoch, und als Roma oder Sinti potenziert sich diese Chance um den Faktor 20. Überproportioniert ist auch der Anteil der Muslime in deutschen Gefängnissen, die häufig mit der Zugehörigkeit zu einer nicht-deutschen Staatsangehörigkeit einhergehen. Zusätzlich sind Ausländer auch anderen Sanktionen ausgesetzt als es Deutschen gegenüber möglich ist: So lässt sich ein Ineinandergreifen von strafrechtlicher und migrationspolitischer Kontrolle verzeichnen, das in vielen Fällen auf eine „doppelte“ Bestrafung von Menschen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit hinausläuft. Beispielsweise können strafrechtliche Verfahren zusätzlich zum Freiheitsentzug zu einem Verlust des Aufenthaltstitels und einer Einreisesperre nach Deutschland und damit zu einer Ausreisepflicht des Angeklagten führen.

Das Gefängnis als vergeschlechtlichte Institution

Strafrechtliche Sanktionierung durch Gefängnisse lässt sich auch geschlechtsspezifisch analysieren. Der Strafvollzug ist einerseits durch geschlechtsspezifische Vorstellungen geprägt und ist andererseits daran beteiligt, Konstruktionen von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ hervorzubringen. Historisch betrachtet, sind Frauen ein marginales Phänomen im Strafvollzug. Sie wurden im 18. und 19. Jahrhundert noch vorrangig als Bewahrerinnen der Moral, der Häuslichkeit und als Erzieherinnen innerhalb der Familie konstruiert. Aufgrund dieser Eigenschaften schienen sie weniger dafür geeignet, in Gefängnisse interniert zu werden. Verurteilte delinquente Frauen galten daher auch als „männlich“. Ganz in diesem Sinne attestierte der Gerichtsmediziner Cesare Lombroso weiblichen Gefängnisinsassen männliche Züge. Frauen, die gesellschaftliche Normen übertraten oder die ihnen zugeschriebenen Rollenbilder nicht erfüllten, wurden in dieser Zeit eher als „wahnsinnig“ stigmatisiert und in psychiatrischen Anstalten interniert statt in den Strafvollzugsanstalten, die mit männlicher Delinquenz und Gewalt in Verbindung gebracht wurden.

Noch heute sind die meisten Gefängnisse stark „männlich“ geprägt, obwohl die Zahl der inhaftierten Frauen international insgesamt ansteigt. Der Großteil der Insassen weltweit wie auch in Deutschland sind weiterhin Männer (rund 95%). Im Jahr 2016 befanden sich in Deutschland 3.769 Frauen in Haft (gegenüber 60.629 Männern). Entscheidend für die Zuordnung in den Männer- oder Frauenvollzug ist das biologische Geschlecht. Transsexuelle Inhaftierte, die noch keine umfassende Geschlechtsumwandlung im rechtlichen Sinne vollzogen haben, werden gemäß ihres „biologischen Geschlechts bei Geburt“ inhaftiert und in „Männer“ und „Frauen“ eingeteilt. Insgesamt ist die Zahl von Frauen in deutschen Haftanstalten zwischen 1993 und 2007 um 5,5% angestiegen. Dies korreliert jedoch nicht mit einer Zunahme an kriminellen Delikten durch Frauen, sondern wird der Tatsache zugeschrieben, dass Inhaftierung zunehmend auch für Frauen als zumutbar empfunden wird.

Frauen werden weniger als Männer für Gewaltdelikte zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, sondern stärker aufgrund von armutsbedingten Eigentumsdelikten, Beschaffungskriminalität und Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Es lassen sich Korrelationen zwischen Armut, dem Status als Alleinerziehender, niedrigem Bildungsniveau und Inhaftierung nachzeichnen. Besonders betroffen sind von diesem punitiven Trend Frauen aus marginalisierten Gesellschaftsschichten, was erneut auf einen Zusammenhang der Faktoren Schichtenzugehörigkeit, Race und Geschlecht verweist. Aufgrund kurzer Haftzeiten und der häufigen Unterbringung innerhalb von Sonderabteilungen des Männervollzugs haben Frauen seltener die Möglichkeit, eine Ausbildung während der Haftzeit abzuschließen oder zu arbeiten. Die bestehenden Ausbildungsangebote befinden sich im Niedriglohnsektor. Sie umfassen klassisch weiblich kodierte Berufe wie Friseurin, Modenäherin und Textilreinigerin oder neuerdings auch Call Center Agentin.Die Maßnahmen verweisen auf das persistente Bild der Frau als Zuverdienerin in gering entlohnten Berufen.

Eine Möglichkeit des offenen Vollzugs besteht in vielen Bundesländern im sogenannten „Hausfrauenfreigang“, in dem sich Frauen um die Versorgung ihrer Kinder kümmern können, sofern diese nicht anderweitig sichergestellt werden kann. Diese Option, die ursprünglich für Frauen geschaffen wurde, gilt neuerdings (mit Einschränkungen) auch für Männer. Zusätzlich können Frauen mit nicht-schulpflichtigen Kindern in gesonderten Mutter-Kind Einrichtungen untergebracht werden. Gefängnisse sind stark hierarchisch strukturierte Institutionen mit klaren Autoritätsstrukturen. In solchen „totalen Institutionen“ – die sich dadurch kennzeichnen, dass der Kontakt mit der Außenwelt beschränkt ist und sich das Lebensumfeld der Insassen auf einen einzigen sozialen Raum beschränkt – lassen sich gewaltförmige Beziehungen zwischen den Insassen sowie Missbrauch durch das Personal nicht effektiv verhindern (was Personen aller Geschlechter betrifft). Gerade jedoch Schutz vor Übergriffen, gewaltfreie Milieus und ein weniger autoritäres Setting wären aus der Sicht der feministischen Kriminologie von zentraler Bedeutung, um Frauen, deren bisheriges Leben häufig durch Gewalterfahrungen geprägt war, eine effektive Resozialisierungschance zu geben.

Die emanzipatorische Sprache der Gleichstellung ist demnach durch den punitiven Diskurs übernommen worden, insofern Frauen ebenso wie Männer als für Haftanstalten tauglich eingestuft und vermehrt interniert werden. Dies hat zu einer Integration von Frauen in männlich geprägte Haftanstalten geführt, ohne diese wesentlich zu verändern und an die spezifischen Problemlagen von Frauen und Transsexuellen anzupassen.Ein weiterer Kontext der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten, die durch den Strafvollzug mitgeprägt werden, ist das soziale Umfeld der inhaftierten Person. Durch Inhaftierung sind auch die Angehörigen, sowohl Partner oder Partnerinnen als auch Kinder betroffen. Etwa zwei Drittel der männlichen Inhaftierten in Deutschland haben Kinder, die Gesamtzahl beträgt etwa 100.000. Die negativen Effekte des Strafvollzugs auf Partner und Kindern ist bisher nur randständig erforscht worden. Jedoch ist dieses Phänomen aus einer strafrechtskritischen Perspektive ein prekärer Zustand: Wie lässt es sich rechtfertigen, dass die Angehörigen eines Täters durch eine Strafe ebenfalls negativ betroffen sind, darf doch die Strafe allein retrospektiv dem Täter aufgrund von der von ihm oder ihr verübten Tat gelten?

In einzelnen Fällen mag die Inhaftierung (beispielsweise infolge missbräuchlichen Verhaltens) als Entlastung für den Partner oder die Partnerin und als Chance zur neuen Lebensgestaltung erfahren werden. In den meisten Fällen, so lässt sich Aussagen von Seelsorge-Beauftragten deutscher Haftanstalten und der bisherigen Forschung entnehmen, bedeutet sie jedoch vor allem eine immense Belastung für die übrigen Familienmitglieder. Der Inhaftierung des (zumeist männlichen) Partners folgt regelmäßig die Diskriminierung der gesamten Familie durch das soziale Umfeld, die häufig zum Wegzug aus der bisherigen Nachbarschaft führt. Die Kinder von Inhaftierten reagieren auf das Erlebte nicht selten mit sozialem Rückzug, Angstzuständen, aggressivem Verhalten und Schulschwänzen. Finanziell erleben die Familien meistens starke Belastungen, die der andere Elternteil durch Erwerbsarbeit und alleinige Betreuung der Kinder ausgleichen muss. Diese Doppelbelastung von Partnern, die von informellen Formen des Ausschlusses begleitet wird, führt für gewöhnlich auch zu einer veränderten Rollenkonstellation innerhalb der Partnerschaft. Nach der Entlassung sind beide Beziehungspartner mit großen Herausforderungen konfrontiert, die häufig zum Bruch der Beziehung führen. Das Dispositiv Haft wirkt sich demnach auch auf die Geschlechterbeziehungen gegenüber Partnern außerhalb der Haftanstalt aus. Die Haftstrafe trifft also nicht nur Täter oder Täterin, sondern auch die Angehörigen, von denen sie oft als große Belastung erfahren wird. Das stellt den Begründungszusammenhang staatlichen Strafens als alleinige Sanktion gegenüber dem oder der Schuldigen grundsätzlich in Frage.

Ausblick

Das Gefängnis erweist sich als ein Ort des Ausschließens durch Einschließen: Einerseits befindet er sich am Rande der Gesellschaft und ist bereits geografisch durch Lage und Bau vom Rest der Bevölkerung abgesondert. Andererseits verdichten sich dort gesellschaftliche Machtverhältnisse, und die soziale Deklassierung verschärft sich im Laufe der Inhaftierung und im Leben nach der Haft. Dieser Artikel versuchte zu verdeutlichen, wie durch die Inhaftierung gesellschaftliche Verhältnisse der Benachteiligung auf unterschiedlichen Achsen der Unterdrückung reproduziert und teilweise noch verhärtet werden. Diese Effekte des Dispositivs Haft widersprechen dem emanzipatorischen Versprechen des Rechts, alle Bürger als Gleiche zu behandeln. Sie widersprechen zudem auch dem Resozialisierungsauftrag des Gefängnisses, über den es weiterhin verfügt. In einer radikaleren Deutung stellen diese Erkenntnisse die Haftstrafe jedoch grundsätzlich infrage, da diese nicht dazu geeignet scheint, gesamtgesellschaftlichen Frieden und Gerechtigkeit nachhaltig herzustellen.

Prof`in Franziska Dübgen, Universität Münster | Mit freundlicher Genehmigung: Kritische Justiz, Nomos-Verlag 

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