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Wunsch nach Leben: Einsatz und Widerstandskraft gefragt

22. Januar 2021

Wie bei vielen anderen spüre ich bei Inhaftierten so etwas wie den Wunsch nach Leben, die Sehnsucht nach Glück, Annahme, Zuwendung, Verständnis, Fülle und Zufriedenheit. Vielleicht ist das die geheime positive Basis für den Zugang und das Verständnis zwischen denen und „uns“ Bediensteten einer Justizvollzugsanstalt. Wir „wittern“ unsere innere Verwandtschaft, die es möglich macht, intensiven Kontakt aufzunehmen und miteinander zu arbeiten. Zugleich begegnen mir Hilflosigkeit, Trauer, Enttäuschung, Leid, Zorn und Hass, dass und weil sie es nicht geschafft haben und nicht zu schaffen wissen.

Zeichnung eines jugendlichen Inhaftierten zu seinem Idol des Rappers Tupac. Dieser verkaufte weltweit 75 Millionen Tonträger. In den Ghettos von Oakland schaute er zu den erfolgreichen Zuhältern und Drogenhändlern seines Viertels auf und versuchte sich schließlich selbst im Drogenhandel. Er starb bei einem Attentat 1996.

Ihnen ist nicht klar, was das mit Ihnen zu tun hat? Menschen, die straffällig wurden, sehen, spüren, wissen oder benennen vor allem ausschließlich das, was andere ihnen immer wieder antun und angetan haben. Andere haben ihnen keine Chance eröffnet oder gelassen. Im Gegenteil: Ihnen wurde das Leben verweigert; nach Möglichkeit verhindert, ja als eigene Person genommen. Sie sind in Abhängigkeiten geraten und geblieben. Sie haben es nicht geschafft – warum auch immer – sich zu lösen, sich auf die eigenen Beine zu stellen, Verantwortung für sich zu übernehmen. So, wie sie kleingehalten, infantil, unmündig, unselbständig, unfähig gehalten wurden, so werden sie – Zeit ihres Lebens – fast ständig kleingemacht.

Täuschungen entlarven?

Dass sie dabei mitmachen und daran beteiligt sind, ahnen sie dumpf; halten sich jedoch für unfähig, allein, mit eigenen Kräften daran etwas zu ändern. Sie warten darauf, dass andere kommen. Der „weiße Riese“, eine „Prinzessin“ oder eine „gute Fee“. Irrtümer des Lebens aufdecken, Täuschungen entlarven oder falsche Weichenstellungen beheben wenn ich „Scheiße gebaut“ habe? Es wird schon jemand kommen, der sich mir zuwendet und sie wegräumt. Sie sollen ihre Situation ohne ihr Zutun im Augenblick zu ihren Gunsten verändern, so dass es sich für sie zu leben lohnt. Es ist wie „in per­pe­tu­um“ (lateinisch: auf immer, für ewige Zeiten) mit der Überschrift: Ich sitze hier und schneide Speck; und wer mich lieb hat, holt mich weg. Doch es kommt niemand! Aus unerfindlichen Gründen – wahrscheinlich, weil sie so gut wie kein Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl, kein Wissen um ihre Würde haben – geht ihnen nicht auf, dass sie da endlos und vergeblich warten. Sie sind innerlich blind dafür, dass sie durch diese Haltung den Teufelskreis ihres Lebens in Gang halten und ständig neu drehen.

Mühe lohnt sich

Hier spüre, ahne, sehe oder höre ich oft so etwas wie einen möglichen Ansatz zu gedeihlicher Arbeit. Und das ist der Fall, dass sich dafür Mühe und Einsatz lohnen. Wer wenigstens etwas Mut gefunden hat, sich auf die Suche nach dem eigenen Leben mit den zur Verfügung stehenden Kräften zu machen, der hat schon viel gewonnen. Der sieht ein Licht am Ende des Tunnels. Er weiß zumindest schon mal etwas vom eigenen Leben, für das es sich zu leben lohnt. Andererseits merke ich, wie sehr mich innere Lahmheit, Trägheit des Herzens, Unwille zum eigenen Leben daran hindern, meinerseits ein Angebot zu machen. Von diesem Verständnis her ist der Gefängnisseelsorger ein „ganz schön einsamer Mann“ im Strafvollzug. Tatsächlich hat es für mich während der ganzen Zeit keine persönliche Freundschaft gegeben, die wesentlich über beruflich-vollzugliche Dinge hinausgegangen ist (von einigen Momenten abgesehen). Unabhängig davon war mein Bemühen, jeden Einzelnen persönlich und zugewandt wenigstens zu respektieren, nach Möglichkeit zu akzeptieren. Dabei spielten konfessionelle oder politische oder vollzugliche Unterschiede keine verhindernde Rolle, obwohl ich mich nicht bemüht habe, diese zu verwischen oder zu übertünchen.

Von Anfang an war für mich schwer zu ertragen, wie im Strafvollzug mit Menschen umgegangen wird. Die Beamten in Uniform sind für mich seit eh und je „die armen Schweine“ schlechthin. Alle meine Bemühungen, deren Situation zu erleichtern oder zu verbessern – etwa durch das Angebot von arbeitsbegleitenden und berufsbezogenen Gesprächsgruppen – wurde erst von der Leitung abgelehnt: das sei nicht nötig; die Ausbildung reiche für die Arbeit; wer mehr brauche, solle selbst für sich sorgen; Bemühungen durch Angebote von draußen (etwa Tai-Chi) wurden in Dienstbesprechungen lächerlich gemacht. Aufgrund von kritischen Vorgängen unter Beamten war die Leitung dann doch bereit. Doch wurde das Unternehmen vom Personalrat abgelehnt. Angeblich weil die erforderliche Vertraulichkeit nicht gewährleistet sei. Dies war jedoch nie angefragt worden.

Als „verdächtig“ wurde auch angesehen, dass diese Gruppen auf freiwilliger Basis laufen sollten und nicht „auf Anordnung“. Eine später „angeordnete Supervisionsgruppe“ für einen Bereich, an der alle teilnehmen sollten – vom Abteilungsleiter bis zum Bediensteten auf der Abteilung, hat nie zu arbeiten begonnen. Einerseits war die Verhinderungs- und Vermeidungsstrategie offenbar. Andererseits wurde das durchgängige Motto des Strafvollzuges bestätigt: „lieber für alle nichts als für einige etwas“ – schon gar nicht, wenn einige von sich aus etwas für sich tun wollen und das noch brauchen.

Eingefahrene „Spiele“ beenden

Da mir im Ablauf der Jahre mehr und mehr aufging, dass ich da nichts erreichen kann, verlagerte ich meine Aktivitäten verstärkt auf die Arbeit mit Inhaftierten. Regelmäßige Einzelgespräche über längere Zeit. Pro Jahr kam ich im Schnitt auf 250 bis 300 solcher Gespräche. Inhalt war das Bemühen um Klärung, was den Betreffenden – immer wieder – zu strafbaren Taten brachte und wie es ihm möglich ist, diesen „Teufelskreis“ zu durchbrechen oder eingefahrene „Spiele“ zu beenden. Soweit es um „Schuld“ ging, lag die immer ganz woanders, als etwa akten- oder gerichtskundig für gültig behauptet wurde. Mein Wert hängt davon ab, dass andere mich mögen; und weil sie das nicht von sich aus tun, muss ich sie „kaufen“; aber wehe ihnen, wenn sie sich mir dann nicht bedingungslos zuwenden. Einen, der wegen grausamer Brutalitäten mehrfach verurteilt ist und den alle fürchten, mit dem keiner etwas zu tun haben will (nicht mal die eigene Mutter, der Vater schon gar nicht), der sich selbst stets als „gutmütig“ bezeichnet, der „auch noch den letzten Krümel Tabak mit anderen teilt“, den immer wieder welche darauf verweisen, dass das mit ihm zu tun hat; auch darauf, was er von sich ausblendet. Vielleicht weil er vor sich selbst Angst hat. Es ist eine Art Selbsttäuschung, um sich nicht mit sich auseinandersetzen zu müssen. Das bedeutet: Ich bin als Gefängnisseelsorger mit meiner Wehrhaftigkeit und Widerstandskraft gefragt.

 Ein Kapitel aus: Erinnerungen eines Gefängnispfarrers. (K)eine Satire

 

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