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Der Weg der Wahrheit und Freiheit ist die Klarheit

8. Januar 2021

Seit vielen Jahren treiben mich die Worte Jesu um, die während meiner Tätigkeit als Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt Werl an Brisanz gewonnen haben. Von den Worten des Johannesevangeliums ist es vor allem das Zweite von der Wahrheit, die freimacht. Wahrscheinlich, weil ich mich selbst aus vielen Fesselungen und Gefangenschaften befreien musste und den Wert der Freiheit zu schätzen weiß. Im Strafvollzug stellt sich wie von selbst das Thema „Freiheit“.

Strafe bedeutet zuerst und vor allem: Freiheitsentzug. Der Betroffene hat keine Verfügungsgewalt mehr über sich. Die nehmen – je nach Vollzugsform – andere über ihn wahr. Er ist nicht mehr „Person“, sondern Verwahrgegenstand und Verfügungsmasse. Mag es im Knast auch angeblich „alles“ geben, worum die Inhaftierten von Menschen außerhalb sogar beneidet werden. Was ihnen jedoch nach innen und außen fehlt, ist „Freiheit“. Ein goldener Käfig ist zuerst und zuletzt ein Käfig, der Freiheit nimmt und Freiheit verhindert. Als Folge zieht Freiheitsentzug nach sich: Verkürzung und Verhinderung von Leben, Unterdrückung von Entwicklung, Verweigerung von Selbständigkeit und Eigenverantwortung. Der Strafvollzug dient nicht dem Leben. Er produziert nur „Verlierer“ – wie jedes totalitäre System, wozu auch der Strafvollvollzug gehört. Was Strafvollzug bedeutet und bewirkt, kann sich keiner vorstellen, der ihn nicht erlitten hat. Ich habe inzwischen vielleicht eine schwache Ahnung. Wie es mir als Bestraftem und Betroffenem ging, vermag ich mir nicht auszumalen.

Stark beschäftigt hat mich die Frage, was Wahrheit mit Freiheit zu tun hat. Und: wie ich an das Eine komme, damit ich das Andere erfahre. In dieser Beschäftigung kam ich immer wieder auf das andere Wort: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; und damit die Frage: was ist der Weg, der mich zur Wahrheit führt? Da ich einen Weg gehen kann, müsste es etwas sein, was ich tun kann; das also an mir liegt, in meinen Möglichkeiten steht. Und mir dämmerte: eine Mühe, die mir niemand abnehmen kann, besteht darin: für Klarheit zu sorgen. Die Erfahrung bestätigte mir auf Schritt und Tritt, so dass ich da für mich Gewissheit habe: wenn ich für Klarheit sorge, geht mir die Wahrheit auf.

Und dies wird mir durch die Freiheit bestätigt, die ich finde und erlebe; eine Freiheit, die Lebenskräfte, -willen und -mut weckt und zum verantwortlichen Tun befähigt, ja beflügelt. Das, was ich nach meiner Einschätzung tun kann, ist: Inhaftierten dabei zu helfen, sie bei dem Bemühen zu begleiten, für sich Klarheit zu gewinnen, damit ihnen die Wahrheit über sich selbst aufgeht und sie sich freier in ihrem Tun und Lassen erfahren, zu sich stehen können und Verantwortung für sich übernehmen. Klarheit gewinnen, das heißt ein möglichst hohes Maß an Wissen über sich selbst und (innere) Gefangenschaften und über Fesselungen und Verstrickungen.


Vom therapeutischen Prozess zur seelsorgerischen Haltung

Einer wird als 5 jähriger durch die Geburt eines Bruders als „Prinz“ der Familie „entthront; das „versteht“ er nicht; er hat nichts „verbrochen“ und wird doch „unerbittlich betraft“ mit Entzug der Aufmerksamkeit und Zuwendung und durch die Forderung, er muss „Verständnis“ für den Jüngeren aufbringen; darum bemüht er sich verzweifelt, doch wird ihm nie wieder die ursprüngliche Zuwendung geschenkt = der Bruch in seinem Leben.

Ein anderer gewinnt die Aufmerksamkeit/Zuwendung seiner Oma nur dadurch, dass er sich in die Hose macht. Dann kommt sie angerannt, reißt ihn sich unter den Arm, bringt ihn in die Waschküche und spritzt ihn kalt ab. Die früheste Erinnerung daran geht ins 2. Lebensjahr zurück. Festgesetzt hat sich: ich bekomme nur Zuwendung, wenn ich „Scheiße baue“, dann kommt immer jemand, der sich mir zuwendet und den Mist wegmacht.

Ein weiterer wird als 2 jähriger von seiner Mutter bei den Großeltern zurückgelassen, ohne dass er etwas von der Abreise mitbekommen hat. Mutter ist weg. Er verlebt eine selige Kindheit, bis seine Mutter – ebenso wie ein Blitz aus heiterem Himmel – verlangt, dass ihr Sohn zu ihr kommt. Es ist kurz vor seiner Einschulung. Die Mutter wohnt im Westen, ist verheiratet, hat mehrere Kinder. Davon weiß der Älteste nichts. Für ihn ist es wie die Verheißung des Himmels, dass seine Mutter ihn wiederhaben will; gleichzeitig will er aber seine Großeltern und Tanten nicht verlieren.  Als er bei seiner Mutter ankommt, dreht er durch: mit dieser neuen Situation ist er überfordert. Er wollte seine Mutter für sich und findet geradezu eine Heerschar von Konkurrenten, gegen die er nicht ankommt. Schon in den nächsten Wochen haut er ab, weil er zu seiner Oma will. Er wird aufgegriffen, zurückgebracht, bekommt Strafen, hört Drohungen – und ein unendliches Spiel beginnt, bis er in ein Heim kommt. Da verliebt er sich als Dötz in eine Ordensschwester. Mit der geht es ihm wie mit der Oma, die ihn – nach seinem Erleben – nicht mehr haben wollte, und mit der Mutter, die ihn weggeschickt hat, statt ihn anzunehmen. Er kämpft verzweifelt um die Zuwendung dieser Schwester wie vorher um die seiner Oma und seiner Mutter; und er erlebt, dass er abblitzt. So laufen alle seine Beziehungen zu Frauen: im Kampf um deren Zuwendung zerstört er sich alles; und wenn alles zu Bruch gegangen ist, sitzt er wieder in Haft.

Handlungen sind nicht absolut

Um darin Klarheit zu gewinnen, können Jahre vergehen. Belastend ist dabei, dass die Betreffenden sich den – meist – tiefen Verletzungen stellen und die Schmerzen aushalten. Da ist viel Behutsamkeit und Beharrlichkeit zugleich nötig, damit sie ihre Trauer annehmen und in ihr nicht untergehen. Meist kostet es vor allem Überzeugungskraft, diese „Verurteilungen“, die wie Besessenheit auf ihnen liegen, zu relativieren. Das heißt, ihnen nahe zu bringen: solche Aussagen und Handlungen sind nicht „absolut“, haben keine Gültigkeit für ewig. Der Bann wird gebrochen, der Fluch aufgehoben, wenn sie sich eine andere, tragende Basis suchen, die unaufhebbar und bleibend gültig ist. Da bin ich als Seelsorger gefragt.

Bisher hatte ich mich dem Anderen gleichsam als sein „zweites Ich“ zur Verfügung gestellt: aufgrund meiner Kraft, die ihn hielt, konnte er sich an Stationen seines Lebens wagen, die für ihn bislang Tabu waren – vor Angst, Nöten und Schrecken. Jetzt kann ich einen „Positionswechsel“; gleichsam aus dem „therapeutischen Geschäft“ in die „seelsorgliche Haltung“: Ich werde für den Mann zum „zweiten Christus“ (nach Rogers). Der innere Prozess, der beim Einzelnen abläuft, wenn er dieses Wort auf sich beziehen kann, besteht darin, dass er sich von denen distanziert und unabhängig macht, die ihm sein Leben verweigert haben, und sich dem zuwendet und auf den verlässt, der ihm dieses Wort in der Taufe gesagt hat: „Du bist mein geliebter Sohn; Dich liebe ich; Du gefällst mir, so wie Du bist, weil Du bist.“ Dieses Bekenntnis Gottes zu ihm gibt ihm seine Würde, seinen Wert, seine Einmaligkeit und Originalität, wenn er es hört und annimmt, damit es für ihn wahr werden kann.

Hilf mir es selbst zu tun

Hand in Hand damit läuft ein anderer Strang, der in der Regel erst eine Rolle spielt, wenn der „Schutt und Mist des Lebens“ ein wenig gesichtet und weggeräumt – und als Teil des eigenen Lebens akzeptiert ist. Etwa nach dem Motto: Mist ist nötig, damit was wachsen und werden kann, jeder Mist hat auch seinen Wert, wenn ich ihn erkenne und zu nutzen weiß. Meine Bremse dabei ist, dem anderen möglichst wenig abzunehmen; gemäß dem pädagogischen Grundsatz von Maria Montessori: „Hilf mir, es selbst zu tun“. Soweit ich kann, bohre und frage ich vor allem an den Punkten, die mir als unklar oder ungereimt erscheinen, damit dem anderen etwas „aufgeht“ – gemäß meiner Überzeugung: Klarheit führt zur Wahrheit, die mit dem Maß der gefundenen und geschaffenen Klarheit aufgeht und durch gewonnene Freiheit bestätigt wird.

 Ein Kapitel aus: Erinnerungen eines Gefängnispfarrers. (K)eine Satire | Foto: Adveniat

 

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