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Vielleichtsager: Wir wollen lieber nicht – oder doch?

6. Februar 2020

Viele junge Leute wollen sich nicht mehr festlegen, nicht in der Liebe, nicht im Konsum, nicht in der Politik. Sie sind Wischiwaschis, die nur eines können: reflektieren. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Das wurde der jungen Frau spätestens während der mündlichen Examensprüfung in irgendeinem sozialwissenschaftlichen Fach bewusst, als die Professorin mahnte: „Sie müssen unbedingt lernen, zuzuspitzen!“ Es war um die Frage gegangen, ob Neoliberalismus gut oder schlecht sei aus Geschlechterperspektive.

„Einerseits“, sagte die junge Frau, „haben wir die Idee vom geschlechtslosen Humankapital. Frauen können auch Managerinnen sein, das ist ja besser als im Patriarchat.“ Pause. Luft holen. Kritisch kucken. „Andererseits handelt es sich um ein zutiefst unsoziales Eliten-Projekt. Wer keine schlecht bezahlte Migrantin anstellen kann, die den Haushalt schmeißt und die Kinder aufzieht, hat Pech gehabt.“ Kompliziert. Beziehungsweise: „Ich sehe es eher ambivalent.“

Ein paar Tage später, Abschlussprüfung in irgendeinem sozialwissenschaftlichen Nebenfach, wagte der Prüfer denselben Befund. „Sie müssen lernen, zu-zu…“ Eben hatte man noch die Theorie der „Neuen Kriege“ diskutiert und wurde gefragt, ob man sie auf den Ressourcenkonflikt in der Demokratischen Republik Kongo anwenden könne. Unser Prüfling stellte die Gegenfrage: Sind die Neuen Kriege nicht die Erfindung ein paar westlicher Wissenschaftler, die sich bislang bloß für europäische Schützengräben und die schönen Symmetrien des Kalten Krieges interessierten? Was ist so „neu“ an den Neuen Kriegen? Da muss man doch erst einmal die westlichen Denksysteme decodieren! Nicht wahr?

„Don’t be a maybe“

Wobei die letzte Frage nicht wirklich gut gestellt ist, denn die Wahrheit ist heute derart außer Mode, wie es noch vor ein paar Jahren der Vollbart für den jungen Mann und die hochgeschlossene Spitzenkragenbluse für die junge Frau waren. Über die Jungen wurde längst zu Gericht gesessen, das Urteil ist vernichtend: Eine ganze Generation sei nicht mehr in der Lage, Entscheidungen zu treffen, sich verbindlich festzulegen und sich klar zu äußern. Die Jungen machen Car-Sharing, statt sich ein Auto zu kaufen, sie leben polyamourös, als sich für immer mit dem einen Menschen zu vereinen. Despektierlich ist von „Berufsjugendlichen“ die Rede, von einer „Generation der Jeinsager“. Die, die nicht zuspitzen können.

Die Älteren schütteln ihre grauen Köpfe über die Wischiwaschis. Die Werbung will sie aus der Reserve locken. Der Slogan „Don’t be a maybe“, der an der Plakatwand hängt, adressiert den bärtigen Hipster-Typen, der lieber „eventuell“ als „ja“ zu einer Zigarette sagt, als postmodernen Marlboro-Man. Die subtile Botschaft: Entscheiden Sie sich lieber für einen richtig fiesen Lungenkrebs, als sich überhaupt nicht zu entscheiden. So weit ist es mit uns also schon gekommen.

Ja, früher war alles so schön einfach, so klar. Man konnte rauchen wie ein Schlot, weil es die Medizin noch nicht besser wusste. Die Erde war eine Scheibe, weil kein Seemann jemals an ihren Tellerrand gefahren war. Die einen konnten Kapitalismus richtig gut finden, weil es noch keine Finanzkrise gab. Die anderen träumten absolut entschieden vom Kommunismus, weil man die Morde des Stalinismus als antikommunistische Propaganda abtun konnte und weil er ja überhaupt noch im Regal mit den Systemangeboten auslag. Heute steht da nur noch alternativlos Thatcher’s TINA herum, das „Zeitalter der Extreme“ ist zu Ende und Eric Hobsbawm tot. Schluss mit den Extrempositionen. Schluss überhaupt mit Positionen.

Alles ist grau

Schwarz oder weiß, das Schema geht heute selbst für diejenigen nicht mehr auf, die sich (Achtung!): entscheiden, keine Tiere mehr zu essen. Für den unbändigen Appetit der Vegetarier und Veganer auf Sojaschnitzel wird jetzt der Regenwald abgeholzt. Jüngst hat man sich über indische Frauen gefreut, die entschieden gegen Sexismus protestierten, musste sich aber flink wieder distanzieren, weil sie forderten, die Vergewaltiger von Delhi sollten hingerichtet werden. Igitt, wir sind doch nicht im Mittelalter. Andererseits: Können wir unsere Menschenrechtsprinzipien einfach so auf nicht-westliche Länder anwenden? Das ist neokolonial.

Und Universalismus ist so out wie Wahrheit. Deshalb sagen wir lieber „Ja, aber“, wenn wir etwas möglicherweise gut finden. Oder mit Melvilles Bartleby „Ich möchte lieber nicht“, wenn uns etwas weniger passt. Längst ist alles grau bis anthrazit wie der Pullover eines guten Intellektuellen aus den Achtzigern, der alles kann und über alles Bescheid weiß – Derrida, Foucault, Deleuze und Guattari, Butler und wie sie alle heißen – nur nicht zuspitzen, nur nicht etwas „wirklich wissen“.

Es hätte auch alles anders sein können

Es birgt eine gewisse Ironie, dass die Forderung, bitte mal wieder entschieden Haltung zu zeigen, auch aus der Akademie tönt, die doch die Haltungsschwächen der Jüngeren selbst befördert hat. Die Skepsis gegenüber dem Wissen kommt aus der Wissenschaftstheorie und somit der Wissenschaft selbst. Wissen ist ein soziales Konstrukt, haben wir von den Sozialkonstruktivisten gelernt, es ist von Menschen gemacht, alle sogenannten Fakten muss man im gesellschaftspolitischen Kontext der Zeit betrachten. „Wir erzeugen uns Welten, indem wir Versionen erzeugen“, schrieb Nelson Goodman in „Weisen der Welterzeugung“. Hilary Putnam setzte noch hinzu: „Es gibt nicht die einzig wahre Beschreibung der Wirklichkeit.“ Man kann, nein, man muss es so oder so sehen. Oder es mit dem Frankfurter Philosophen Wolfgang Welsch sagen: „Niemand, der nicht die Erfahrung gemacht hat, dass etwas, was völlig klar ist, in einer anderen Betrachtungsweise völlig anders gleichermaßen klar sein kann, vermag heute noch kompetent zu reden.“

Der Sprache ist eine gewaltige Macht zugesprochen worden. Nehmen wir Richard Rorty, der sich nicht darauf festlegen wollte, dass es Dinosaurier gegeben hat – zumindest nicht jenseits der Tatsache, dass wir über sie reden. Sprache ist, was Fakten schafft. So glaubte Michel Foucault etwa, dass vor der Erfindung des Konzepts „homosexuell“ es keine Homosexuellen gab, sondern Männer, die bevorzugten, mit anderen Männern zu schlafen. Auch Historiker widmen sich inzwischen Erzählungen, sie betreiben weniger Faktenforschung, sie spüren Narrative auf. Im Kino laufen keine Historien-Epen mehr, sondern Filme aus der phantastischen Ideenfabrik Quentin Tarantinos. Es hätte auch alles anders sein können. Postmoderne hat etwas Befreiendes und Ermächtigendes.

Lieber reflektieren statt handeln

Laut Lyotard sind wir an das Ende der großen Erzählungen gelangt, weder Aufklärung noch Idealismus, noch die Idee vom sinnvollen Fortschritt der Geschichte besitzen noch Verbindlichkeit und Legitimationskraft. Wir glauben einfach nicht mehr daran. Der emeritierte Papst Benedikt mag das anders sehen. Es bilde sich „eine Diktatur des Relativismus heraus“, hat er im April 2005 gepredigt, „die nichts als definitiv anerkennt und die als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Wünsche gelten lässt.“ Manche mögen das als einseitig zugespitzt empfinden. Und es lieber so sagen: Postmoderne ist ein Projekt der Anerkennung von Pluralität. Unterdessen verspricht man in der „wirklichen“ Welt am Kiosk „Fakten, Fakten, Fakten“ und sucht den Mutigen neben dem Papst, der endlich die Wahrheit ausspricht.

Bevor wir Jungen uns von den widersprüchlichen Erzählungen verwirren lassen, sprechen wir lieber von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Immerhin vermögen wir kompetent zu reden. Wir handeln nicht, wir haben gelernt zu reflektieren. Das ist anstrengend genug. Gut, dass wir uns nicht auch noch über den einen methodischen Zugang unserer Doktorarbeit Gedanken machen müssen. Seit Paul Feyerabend Ende der siebziger Jahre „Wider den Methodenzwang“ polemisierte, brauchen wir uns auch hier nicht mehr festzulegen. Die Nichtentscheider sind auch die Geister, die man von den Lehrstühlen aus rief.

Dominieren Akademiker die ganze Generation?

„Nicht selten lag ich nachts wach und fühlte mich wie ein Fetzen Soziologie“, schrieb Benjamin Kunkel in seinem Roman „Unentschlossen“ (2006), der sich des Problems popliterarisch annimmt. Sein junger Protagonist leidet an der „chronische Abulie“ genannten Entscheidungsunfähigkeit. Kunkel hat verschiedene geisteswissenschaftliche Fächer an verschiedenen amerikanischen Eliteuniversitäten studiert, ein absolut durchakademisiertes Kind, kein Wunder, dass man auf die Idee zu einem solchen Roman kommt.

Aber vielleicht ist das der entscheidende Punkt. Man mag sich tendenziell und unter größtem Vorbehalt über die These Gedanken machen, dass Abulie ein Problem junger bis mitteljunger Geistes- und Sozialwissenschaftler ist. Mit Verlaub: So viele gibt es davon ja auch nicht, als dass sie eine ganze Alterskohorte dominieren könnten. Man könnte wagen, diese Generationenerzählungen zu dekonstruieren, zum Beispiel, indem man das Phänomen einmal empirisch untersucht. Man könnte bei dem jungen Paar aus dem Dorf seiner Eltern anfangen, das gerade beginnt, ein Haus abzubezahlen. Oder bei der Kassiererin im Supermarkt. In der Abschlussprüfung in Volkswirtschaftslehre sah sich die junge Frau jedenfalls nicht mit dem Zuspitzungsproblem konfrontiert. Es fehlte der Anlass, irgendetwas kritisch hinterfragen zu müssen. Das hatten die Dozenten ja während des ganzen Studiums nicht von ihr verlangt. Es gibt durchaus Disziplinen, die noch Wahrheit kennen. Aber vielleicht ist genau das ihr Problem.

Eva Berendsen | © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.2.2013

 

1 Rückmeldung

  1. Ceelen sagt:

    Anbei 3 Texte zum Thema, die in meinem neuen Büchlein von mir, Petrus Ceelen, enthalten sein werden. Titel: „Über Stock und Stein – Querbeet durchs Leben“.

    Auf Eiern

    Wir legen uns nicht fest, bleiben lieber neutral.
    Wir gehen auf Eiern, nur keines zertreten. Einerseits. Andererseits.
    Wir sind Wischiwaschi. Sowohl als auch, vielleicht, eventuell.
    Ja, aber. Ja wenn. Womöglich. Jeinsager. Do´nt be a maybe. Nein, aber Ja doch.

    Nachts

    Ich glaube nicht an Gott, aber ich gebe zu, dass ich ihn vermisse.
    Ich bin kein Kirchgänger, aber manchmal gehe in die Knie und bete, bitte, bettele.
    Ich glaube nur, was ich sehe, aber ich spüre, dass ein Engel mich beschützt.
    Ich bin ein überzeugter Atheist, zumindest tagsüber, nachts bin ich mir da nicht so sicher.

    Coming out

    Manche glauben, dass vor der Erfindung des Begriffes „homosexuell“ es keine Homosexuellen gab, sondern Männer, die bevorzugten, mit anderen Männern zu schlafen. Erst das Wort schaffe Fakten. Die Macht, die der Sprache zugesprochen wird, soll gewiss nicht unterschätzt werden. Worte haben auch die Macht zu verletzen. „Schwul“ war lange Zeit ein Schimpfwort. Inzwischen haben viele Männer es sich zu eigen gemacht: Ja, ich bin schwul. Und das ist gut so, fügen nicht wenige hinzu. Männer, die liebend gern mit Männern schlafen, sind heute nichts Außergewöhnliches mehr.

    Und auch Lesben können offen zu ihre Liebe, Vorliebe stehen. Das war und ist längt noch nicht immer und überall so. Nicht nur auf dem Land versuchen viele Schwule und Lesben auch heute noch, erst einmal den „normalen“ Weg zu gehen, die „Norm“ zu erfüllen: heiraten, eine Familie gründen. Ein Doppelleben, zwei Leben leben, zwei Rucksäcke tragen. Wie schwer das ist, wissen wohl auch die Menschen, die gefühlt im falschen Körper leben. Transgender hat es sicher auch schon immer gegeben. Aber es gab früher nicht einmal ein Wort dafür. Worte wirken, bewirken, dass Menschen sich aus ihrem Versteck heraus trauen und sich trauen, offen zu sich zu stehen.

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