parallax background

Schlussstrich – Und vergib uns unsere Schuld?

14. August 2019

Lara Hartung | unique

Mörder, Vergewaltiger, Betrüger – Dietmar Niesel hat mit ihnen allen gesprochen, sie getröstet, ihre Geschichten angehört. Seit über zehn Jahren ist er, zunächst ehrenamtlich, für die katholische Kirche als Gefängnisseelsorger tätig; hier in Tonna betreut er die Gottesdienstvorbereitungsgruppe. Seit dem Zeitpunkt, als der gelernte Tischlermeister arbeitslos wurde und beschloss, sich einen alten Traum zu erfüllen und doch noch Theologie zu studieren, kam für ihn nie eine andere Tätigkeit in Frage. Es ist ein Vers aus Matthäus, 25,36, auf den nicht nur er, sondern Seelsorger aller christlichen Konfessionen sich berufen: „Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.“

Mit künstlerischen Fähigkeiten ist das so eine Sache. Manchmal sind sie ein angeborenes Talent, meistens aber brauchen sie Zeit, um sich zu entwickeln. Und Zeit um schnitzen zu lernen, davon hatte Martin S.* ganz viel: Über 33 Jahre ist es her, dass er jemanden getötet hat und dafür verurteilt wurde, seitdem ist er in Haft. Heute sitzt er in der Gefängniskirche, in der Mitte des Tisches liegt das Foto eines Holzkreuzes, das er geschnitzt hat und das ein Kunstwerk ist. Es ist ein heller Raum, an den Wänden hängen Bilder und der Boden vor dem Altar ist gelb von den Blättern der Sonnenblumen. Die Männer, die sich montags um 16:30 Uhr hier versammeln, kennen sich gut, sie lachen und reden über ihren Alltag, Gott und die Welt.

Seit das geschrieben wurde, sind 2.000 Jahre vergangen. Die JVA Tonna ist derzeit nicht nur eine der modernsten, sondern auch die größte Haftanstalt in Thüringen: Für bis zu 589 Gefangene und fast 260 Bedienstete ist hier Platz, ein gewaltiger Komplex aus Sportfeldern, Stacheldraht und Werkstätten. Trotzdem ist sie dem Navigationsgerät unbekannt, die Busse fahren nur unregelmäßig – zu ihr zu kommen ist schon logistisch gar nicht so leicht. Es ist, als schließt sich mit jedem weiteren Dorfgasthof und jeder weiteren kaum befahrenen Landstraße eine Tür zu einer Welt, mit der keiner etwas zu tun haben will, die von den Menschen fein säuberlich aus dem Bewusstsein gedrängt wird.

Was soll ich einem vom lieben Gott erzählen

Jeden Morgen durchquert Dietmar Niesel diese Türen, um zu reden. Denn für die Gefangenen ist er in erster Linie eins: ein Gesprächspartner, zu dem sie mit jedem Thema kommen können – häufig auch ohne jeden religiösen Bezug. „Herr Pfarrer, Sie sind endlich mal einer, der kommt nicht immer gleich mit dem lieben Gott“, habe mal ein Gefangener zu ihm gesagt. Für den Seelsorger ist der Grund dafür einfach: „Was soll ich einem vom lieben Gott erzählen, wenn er mit sich selber nicht klarkommt?“ Viel wichtiger ist zunächst, bei der Bewältigung des alltäglichen Lebens zu helfen. Das fängt bei der Erfüllung von Grundbedürfnissen an: Ein Stift, Zigaretten, Papier – oft ist es für Gefangene bereits problematisch, an diese kleinen Dinge zu kommen. Erst dann können tiefere Gespräche über die aktuellen persönlichen Sorgen und Nöte folgen.

Dass er dabei nur selten wirklich helfen kann, ist nicht so wichtig: „Es geht nicht darum, etwas zu lösen“, erklärt Jonas M., „sondern einfach zuzuhören.“ In einem Alltag, in dem jede Handlung und jeder Satz zur Kriminalprognose wird, sieht der Teilnehmer der Gottesdienstvorbereitungsgruppe das als etwas Besonderes: „Wenn nicht Herr Niesel da wäre, der auch mal auf einen zugeht, würde das gar keiner tun.“ Zuhören, das bedeutet für Jonas M., auch mal gefragt zu werden, ob es ihm schlecht geht. Es bedeutet aber auch, vertrauen zu können: „Außer den Seelsorgern gibt es keinen, der neutral mit dir reden kann“, ergänzt er. Denn diese sind die Einzigen in der Anstalt, die sich auf das Beichtgeheimnis berufen können – im Gegensatz zu allen anderen Mitarbeitern der JVA, die verpflichtet sind, Gespräche durchgängig zu protokollieren. Das ist wichtig, da nur so objektive und juristisch überprüfbare Einschätzungen ermöglicht werden können. Es schafft aber auch Distanz. „Bei mir hat das dazu geführt, dass ich am Gitter eine Trennlinie ziehe“, so Jonas M. „Alles was hellblau herumläuft, dem kann ich nicht vertrauen.“

Es ist fast wie im Kloster

Die Montagnachmittage in der Kirche empfindet er als die entspannendste Zeit in der Haft. Man kann frei reden und es gibt Kaffee – eineinhalb Jahre hat Dietmar Niesel dafür gekämpft, welchen servieren zu dürfen. Die bunten Tonkreuze, die die Gruppe fertigt, will der Seelsorger den Gefangenen schenken: Viele haben sich Kreuze für die Zellen gewünscht, aber es fehlte das Geld. Später stehen alle um das Klavier und proben die Lieder für den Gottesdienst. „Du Gott bringst uns ins Leben, du Gott rufst uns zur Freiheit.“ Hier, in dem kleinen Raum, in dem die Schatten der Gitterstäbe mit den abstrahierten Kreuzen der Buntglasfenster verschwimmen, bekommen die Verse einen faden Beigeschmack.

Kann Glaube befreien? Dietmar Niesel ist sich sicher, dass er das in gewisser Form bereits getan hat. „Mein Leben wäre wahrscheinlich auch geeignet gewesen, irgendwann hier hinter diesen Mauern zu landen“, erzählt er. Den Halt, den die Religion ihm in Problemsituationen gegeben hat, möchte er jetzt weitergeben. Was ihm dabei in die Hand spielt ist das, wovon Gefängnisinsassen am meisten haben: „Es ist fast wie im Kloster“, schreibt ein Gefangener in einem Brief, „eine Zelle mit Bett und viel Zeit zum Nachdenken über das alte Leben.“ Zeit, die den Verfasser letztlich dazu gebracht hat, in der Bibel zu blättern, die ein Pfarrer ihm hingelegt hatte – und sein Leben zu ändern.

Zeit, in der man zu sich selbst finden kann, manchmal auch zum Glauben – zu Ostern hatte Dietmar Niesel in einem anderen Gefängnis eine Taufe, ein junger Mann, den er lange vorbereitet hatte, der Gitarre spielt und singt. Zehn Minuten dauerte es, dann fing er eine Schlägerei an, eine Woche und er tauchte den Kopf eines Mitgefangenen in die Toilette; fünf Wochen nach der Taufe nahm er wieder Drogen. Meistens ist es eben doch nicht so einfach. Die Versuchung ist groß, in die alten kriminellen Verhaltensmuster zurückzufallen, da sie so viel einfacher zum Ziel zu führen scheinen. Täglich erlebt der Seelsorger Betrugs- und Manipulationsversuche. Es ist ein Grund, weshalb ein gesundes Verhältnis von Nähe und Distanz auch für ihn so wichtig ist – nicht jedoch der einzige: „Diese Schilderungen von Verbrechen, die nehmen einen manchmal schon ziemlich mit“, erzählt der 55-Jährige. Vieles von dem was er hört, ist der Staatsanwaltschaft nicht bekannt, etwa, wenn jemand seine Frau geschlagen hat, ein Kind missbraucht. Deshalb trägt er seine persönliche Uniform: Schwarze Hose und weißes Hemd helfen ihm, sich zu erinnern, wer und warum er hier ist. Und daran, dass niemand nur Mörder ist. „Es ist egal, was ein Mensch getan hat“, sagt Dietmar Niesel, „er bleibt ein Mensch.“

Gefängnisse muss es geben

Ein Mensch, und das ist etwas, das wir auf der anderen Seite der Türen nur allzu gern vergessen, der nicht nur irgendwann in die Gesellschaft wieder eingegliedert werden soll, sondern früher auch ein Teil davon war. „Der Knast ist der Spiegel der Gesellschaft. Wieso sollte die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld hier wichtiger sein als draußen?“, fragt Dietmar Niesel. Für ihn bestehen noch zu viele Vorurteile, nicht nur über die Gefangenen, sondern auch über deren Situation. „Man müsste eigentlich mal jeden einsperren, damit er weiß, wie gut er lebt, draußen mit dieser Freiheit.“ Im Umgang mit den Inhaftierten setzt er weniger auf Sicherheit, sondern mehr auf Respekt und Vertrauen. „Mit Sicherheit und Kontrolle kriege ich nichts hin. Ich kann immer etwas verstecken.“ Das macht seine Arbeit zur Gratwanderung – zwischen Personen auf der einen Seite, auf der anderen den Mechanismen eines Systems, dessen Grundanlage es ist, über Vorschriften und Überprüfbarkeit eine objektive Basis zu schaffen.

Für Einzelne, das zeigen Geschichten wie die von Martin S. ganz deutlich, kann in diesem System kaum Platz sein. Fast die Hälfte seines Lebens hat er hinter Gittern verbracht, stolz erzählt er von seinem letzten Ausgang, von Alltäglichkeiten, die er gemeistert hat. Martin S. ist sich sicher, dass er bereit ist für die Welt da draußen – eine Welt, die sich in den letzten drei Jahrzehnten völlig verändert hat. „33 Jahre“, sagt Dietmar Niesel leise. „Das kann man sich gar nicht vorstellen.“ Er selbst habe drei Töchter, erzählt der Diakon, die wären dann nicht da. „Nicht, dass man Leuten die Schuld nachlässt, das kann ich sowieso nicht, das muss er vorm Herrgott selber ausmachen. Aber kann man nicht mal hier einen Schlussstrich ziehen?“ Nur: Wer zieht diesen Strich, und wer entscheidet über dessen Rechtfertigung? Es ist eine Frage, die nicht nur die Seelsorge, sondern die Grundlegung des Justizvollzuges selbst betrifft. Denn ohne starre Vorschriften geht es auch nicht. „Gefängnisse muss es geben“, meint auch Dietmar Niesel, „wir haben im Moment nichts anderes.“ Wo er Spielraum sieht, ist die Gestaltung des Vollzuges. „Den könnte man bedeutend menschlicher machen, das steht für mich fest.“ Aber es besteht auch ein Umdenken. Seit die JVA vor einem Jahr eine neue Gefängnisleitung bekommen hat, wurde eine Leitbilddiskussion in Gange gebracht und die Frage nach dem Umgang mit den Gefangenen thematisiert. „Aber das ist eine Sache, die dauert noch ein paar Jahre.“

Es ist Abend geworden. Die Stacheldrahtgitter der JVA Tonna liegen im letzten Sonnenlicht, als Dietmar Niesel durch die Grünanlagen zum Ausgang geht. „Ohne Zäune wäre es hier schöner“, bemerkt er.

Mit freundlicher Genehmigung: Interkulturelles Studentenmagazin unique

 

Feedback 💬

Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert