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Über angekündigten Suizid und Gewalt hinter Gittern

14. Februar 2022

Gewalt, Kriminalität und Drogen. Jesus, eine Kirche und ein Pfarrer. Dinge, die so im Gegensatz zueinanderstehen und sich doch an einem Punkt treffen: In der Justizvollzugsanstalt Herford. „Klack, klack, klack, klack“. Die Schuhe des mittelgroßen Mannes mit den braunen Haaren klackern über den kahlen, grau gefliesten Gang des Gefängniskorridors. Abrupt hält er vor einer der unzähligen, hellgelben Türen. Mittig der Tür die Zellennummer: 210. Ein kurzes Klopfen, ein gedämpftes „Ja?“. Gefängnispfarrer Stefan Thünemann dreht den fast handlangen, silbernen Schlüssel im Schloss und die metallene, mehrere zentimeterdicke Tür öffnet sich.

Dahinter rückt ein lang gezogener, schlichter Raum ins Blickfeld. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Regal, ein Fenster. Vergittert, was denn auch sonst? Viel Licht fällt nicht in den kleinen Raum. Auf dem Regal eine Anreihung von Shampoo- und Duschgelflaschen. „Duschen ist im Gefängnis wie ein kurzer Moment Freiheit. Wenn du gefragt wirst, ob du heute schon duschen warst, sagst du nein, auch wenn du schon warst.“, erklärt Anton Müller*, der Inhaftierte der wenigen Quadratmeter. Er schlüpft rein in seine Schuhe und raus aus der Enge des Raumes. „Wenn ich in meiner Zelle Schuhe trage, habe ich das Gefühl, ich muss sofort putzen. Alles muss sauber sein.“ Vielen anderen Gefangenen geht es ähnlich. Es ist immerhin ein kleiner Teil ihres Lebens, den sie noch selbst kontrollieren können. Viel mehr Kontrolle gibt die Vollzugsanstalt nicht her. Hier in Herford findet für mehr als hundert junger Männer zwischen 14 und 24 ein eingeengtes Leben statt. Strikte Tagesabläufe, kaum Möglichkeiten selbst zu entscheiden. Die Gründe für ihre Aufenthalte sind unterschiedlich, von Totschlag und Sexdelikten über Drogenhandel, bis Autodiebstahl und Überfälle.

Wichtiger Ansprechpartner

Das Treppenhaus? Abgeschlossen. Die einzelnen Gänge zu den Gefängniszellen? Ebenso abgesperrt. Alle paar Meter wird einem der Weg versperrt. Dicke gelbe Türen, 50 blaue Türen und Gittertüren sorgen zwar für etwas farbliche Abwechslung, allerdings vor allem für eins: Sicherheit. Einmal in der Vollzugsanstalt drinnen, kommt man dort nicht mehr so leicht raus. Leute, die es versuchen, gibt es trotzdem immer noch. Dann werden sie danach häufig in noch besser abgesicherte Gefängnisse gebracht. „Manchmal erzählen die Gefangenen mir von ihren Plänen, was sie vorhaben. Weitergeben darf ich das nicht“, berichtet Thünemann.

Stefan Thünemann arbeitet seit acht Jahren als Gefängnispfarrer. Eher als Seelsorger, als Gesprächspartner und Vertrauter der Gefangenen. „Die Straftaten interessieren mich nicht. Auch in die Gefängnisakten schaue ich normalerweise nicht rein.“ Für die Inhaftierten ist er ein wichtiger Ansprechpartner. Diese wissen, dass sie ihm vertrauen können, er ihnen zuhört und dass er außerdem der Schweigepflicht unterliegt. Ganz einfach ist diese Schweigepflicht nicht immer. „Einer der Inhaftierten hat mir seinen Suizid angekündigt. Ich durfte davon nichts weitergeben. In der nächsten Nacht hat er sich erfolgreich suizidiert.“ Der blonde, etwas schlaksige Müller schlendert gelassen mit einigen Metern Abstand vor Thünemann her. Er ist zwar erst 19, doch bereits seit über einem Jahr in der JVA Herford. Gelbe Tür, Thünemann schließt auf. Treppen hoch, nächste Etage, nächste Tür. „Klack“, geöffnet. „Klack“, wieder abgeschlossen. Zwischendurch begegnen sie weiteren Mitarbeitern, die zielgerichteten Schrittes durch die Gänge schreiten. „Justiz“ prangt auf ihren hellblauen Hemden, direkt neben der formellen, dunkelblauen Krawatte. Unzählige Türen weiter sind der Pfarrer und sein heutiger Gesprächspartner am Zielort angelangt: Einem kleinen Raum innerhalb der Gefängniskirche.

Verlockender Kaffee in der Kirche

In der Kirche selbst findet sonntags der Gottesdienst statt, ein Stuhlkreis steht vor einer kleinen Empore, außerhalb des Stuhlkreises eine Weihnachtskrippe. Im Stuhlkreis selbst sitzt beispielhaft eine dunkelhäutige Schaufensterpuppe, natürlich vorbildlich mit Mundschutz. Die Weihnachtskrippe zeigt anstatt des klassischen Stalls eine Gefängniszelle, inklusive Bett, Inhaftierten und allem Drum und Dran. Ein Engel mit Sonnenbrille darf nicht fehlen, anstatt eines Vaters wird ein Großvater dargestellt. „Oft haben die Gefangenen keine wirkliche Vaterfigur. Deshalb spielen die Großeltern in vielen Fällen eine sehr wichtige Rolle im Leben der Gefangenen.“ Die Krippe soll in ihrer besonderen Art und Weise die Lebensnähe der Weihnachtsgeschichte widerspiegeln.

Doch zurück zu dem kleinen Raum innerhalb der Kirche, in dem es verlockend nach Kaffee duftet und Müller sich jetzt nach kurzem Zögern eine Tasse schnappt, um sich entspannt etwas Kaffee einzugießen. Links befindet sich eine kleine Küchenzeile, in der Mitte ein großer, hölzerner Tisch, der beinahe den ganzen Raum einnimmt. Drumherum Stühle. Keine Handschellen, keine Justizbeamten, keine gequetschte Zelle. Wenigstens ein kleines bisschen Freiheit. Freiheit, nach der auch Müller in seinem Leben immer wieder gesucht hat. Freiheit in Drogen, in Überfällen, in Diebstählen. „Als ich elf war, habe ich angefangen Zigaretten und Gras zu rauchen. Mit zwölf kamen dann Amphetamine dazu, mit 13 so Zeug wie E und LSD. Mit 15 Heroin. Vielleicht war das auch mit 16. Aber nur geraucht, nicht gespritzt.“ Wie er zu den Drogen kam? Durch seinen Vater. „Mein Vater war selbst immer wieder im Knast. Auch wegen Totschlag. Als er dann mal da war, hat er mir Gras, also Cannabis und auch Zigaretten angeboten.“ Von den Drogen ist Müller mittlerweile frei, rauchen tut er immer noch. Doch das sind normalerweise nicht die Themen, über die Thünemann hauptsächlich mit den jugendlichn Inhaftierten redet. Ihre Verbrechen sind meistens nicht die Dinge, die die Gefangenen hauptsächlich beschäftigen.

Nicht negativ auffallen

„70 Prozent der Zeit wollen sie mit mir über Beziehungen reden. Das beschäftigt sie am meisten“, berichtet der Gefängnispfarrer. Nachmittags haben die jungen Männer Freistunde. Nicht heraus aus der JVA, aber heraus aus den Zellen, heraus aus den kastenförmigen Gebäuden. In Grüppchen stehen sie zusammen im Innenhof des Gefängnisses. Sie reden, sie lachen, sie unterhalten sich angeregt. Zwei der Jungs tauschen einen Schuh, tauschen ihn wieder zurück. Dunkelblaue Stoffhosen, khakifarbene Jacken, dunkle Käppis. Wären da nicht die hohen Zäune mit dem gewundenen Stacheldraht und die etwas zu einheitlichen Klamotten könnte man fast denken, es wäre ein Schulhof zur Pausenzeit. Doch so friedlich wie es auf den ersten Blick aussieht, ist es nicht unbedingt. Zumindest nicht immer. „Am Anfang muss man sich beweisen. Als ich eines der ersten Male Auslauf hatte, sprach mich eine Gruppe Jungs an, ich sollte ihnen Geld geben. Erst war ich verwirrt und dachte ich hätte etwas gekauft. Dann habe ich gefragt wofür, die meinten Schutzgeld“, erzählt Müller. „Da muss man denen einmal klarmachen, dass man sich da nicht drauf einlässt.“ Trotz dem so geregelten Tagesablauf kommt es manchmal zu Gewalttaten und Übergriffen. „Ich habe bereits zwei Vergewaltigungen miterlebt. Manche können ihren Sexualtrieb nicht unterdrücken“, schließt Müller mit seiner Erzählung. Er selbst hält davon nicht allzu viel. Sein Ziel: Nicht negativ auffallen und durch gutes Verhalten früher entlassen werden. Am besten noch dieses Jahr.

Chiara Großerüschkamp | Journalistisches Arbeiten 

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