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Gedanken einer Taube an ihre Begleiterin

11. Dezember 2018

Plötzlich hat sich mein Leben verändert. Ich bin gegen einen Zug geflogen, der fuhr so plötzlich und schnell in den Bahnhof ein. Ich habe ihn nicht kommen sehen. Und dann ist es geschehen: Fliegen könnte ich noch, denke ich, aber es fühlt sich an, als hätte ich eines meiner Beine verloren, ich verliere Blut. Aber ich weiß es noch nicht. Erschöpft bin ich plötzlich. Müde und nicht mehr flugfröhlich. Ich lege mich in eine unbelebte Ecke des Bahnhofs. Ich kann nicht mehr. Bin völlig erschöpft. Vorsichtig schaue ich hoch in die Gesichter der zweibeinigen Menschen.

Bin ja nur eine Taube…

Manche haben Augen wie ich, manche scheinen keine zu haben. Oder wahrscheinlich sind die meisten von ihnen auch blind, scheint mir. DA: ich schaue direkt in zwei blaue aufmerksam sehende Augen einer Menschin. Ich schaue sie an… Hilf mir, kannst du mir helfen? Und tatsächlich, diese Menschin, sie beugt sich zu mir herab und ein kleiner Angst-Herzschlag durchfährt meinen Körper. Es ist ja nicht alltäglich, dass so eine Menschin sich zu mir herab beugt… Aber dann kann ich mich überlassen. Unbestimmt fühle ich, sie ist eine besondere Menschin jedenfalls eine von den SEHENDEN! Diese Menschin, sie streckt ihre Hände aus und hebt mich hoch vom Boden des Bahnhofs. Sie schaut mir auch in die Augen Und sie sieht, dass ich verwundet bin. Sie nimmt mich schützend und bergend in ihren warmen Arm. Hier ist es besser als in der schmutzig-kalten Ecke des Bahnhofs… Keiner der anderen Menschen und Menschinnen wäre jemals zu dieser Liebes-Tat in der Lage gewesen. Ich bin ja nur eine Taube, ein Vogel unter zig tausenden, die sowieso nicht so wirklich von den Menschen und Menschinnen geschätzt zu werden scheinen.

Ein Stückchen des Weges mit-fliegen

Diese Menschin hier muss noch weiter mit dem Zug reisen. Sie nimmt mich fürsorglich an ihren Körper, schaut mir in die Augen. Ich blinzle zurück, fühle mich wie ein Baby geborgen im Arm der Mutter. Danke, liebe Menschenfrau. Im Zug kommt die Schaffnerin und kontrolliert die Fahrkarten, das brauchen die Menschen, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Schließlich haben sie keine Flügel. Sie brauchen andere Fortbewegungsmittel, die oftmals mit Flügeln so gar nichts zu tun haben. Naja, ich darf ohne Fahrkarte ein Stückchen des Weges mit-fliegen… Ich spüre das Herzklopfen meiner Menschenfrau, die mich verlässlich in ihrem Arm wiegt und birgt. Die Kontrolleurin der Fahrkarte schaut eher mürrisch und nicht gerade vertrauenseinflößend auf mich… Egal, ich fühle mich geborgen und beschützt. Eine Engel-Menschin wahrscheinlich. Ich hatte davon gehört. Es soll sie ja geben. Aber sie sind äußerst selten. JETZT bin ich einer begegnet und ich kann später meinen Tauben-FreundInnen davon erzählen. Wie aufregend. Das sind meine letzten Stunden auf dieser schönen Erde.</ Ich weiß es erst jetzt, wo ein weiteres Menschenkind diese meine Gedanken niederschreibt. Ich bin, dank meiner Retterin aus der Not in einem Tierschutzheim gelandet. Aber die Untersuchungen von Menschen-Ärzten haben ergeben, dass ich wohl eher nicht weiter leben sollte… Ich kann nichts dazu sagen, sie müssen es ja wohl wissen. Und gefragt haben sie mich auch nicht, in welcher Sprache auch?

Im Herzen zweiter Menschenfrauen

Dann ruft mein Schutzengel nochmals an. Sie möchte wissen, wie es mit mir weiter gegangen ist. Vorher noch hatte sie zu ihrer aktuell schreibenden Menschenfreundin gesagt, sie solle bitte an mich denken, ganz fest und natürlich auch an sie, die sie anderntags wieder mit dem Zug auf Reisen gehen will. Jetzt hat man ihr mitgeteilt, dass man entschieden hat, dass ich nicht weiter lebensfähig bin, sie haben mich „eingeschläfert“, wie sie es zu sagen pflegen bei uns Tieren. Ja, das haben sie. Ob es richtig war, kann ich nicht sagen, weil ich zu wenig davon verstehe. Aber jetzt bin ich im Herzen von zwei Menschenfrauen: Die eine, die heute auf Reisen geht, wird weiter von mir erzählen und die andere, die schreibt gerade ihre Herzensgedanken über mich in diese Zeilen hinein. Als „an-mich-Denkende.“ Danke für diese Menschen-Engelfrau, die mich in den letzten Stunden meines Lebens an und in ihr Herz genommen hat. DANKE von Herz zu Herz und von Seele zu Seele. Denn beides haben wir gemeinsam, Ich, die Vogelfrau und Sie, die Menschenfrau/en.

Angelika Hartmann

 

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