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Spirituelle Vernachlässigung in der Suche nach Sinn

2. Mai 2019

Erst als Doris Wagner körperlich angegangen wurde, kam sie an den Punkt, „wo ich verstanden hab‘, irgendwas stimmt hier nicht“, „tragischerweise“, sagt Doris Wagner im Rückblick auf ihre Zeit in der katholischen Gemeinschaft mit dem für Außenstehende seltsam anmutenden Namen „Geistliche Familie – Das Werk„.  Noch immer weitgehend im Dunkel liegt das Phänomen des „spirituellen Missbrauchs“, das sexuellen Übergriffen meist erst den Boden bereitet. Doris Wagner schildert ausführlich die unterschiedlichen Facetten des Phänomens manipulativer Seelenführung in Gemeinschaften der katholischen Kirche und verdeutlicht diese durch reale Fallbeispiele. Aber auch, dass sie selbst dafür anfällig war.

Wagner denkt damals, sie solle auf diese Weise lernen zu dienen, innerlich frei zu werden. Auch wenn das heute für sie im Nachhinein selber absurd klingt. Vor dem sexuellen stand der spirituelle Missbrauch – so hat es Doris Wagner erlebt und so hat sie es hinterher auch von anderen immer wieder erzählt bekommen, die Vergleichbares erfahren mussten. Spiritueller Missbrauch, das klingt ein bisschen fromm und so, als ob das nur ein Problem für überzeugte Christen wäre. Aber Spiritualität ist ein menschliches Grundbedürfnis, davon ist Doris Wagner überzeugt: „Unter Spiritualität verstehe ich ein Bedürfnis und eine Fähigkeit, nämlich das Bedürfnis nach Sinn und die Fähigkeit, Ereignissen, Erfahrungen Sinn zu geben. Es gibt keinen Menschen, der nicht spirituell ist, weil wir das alle brauchen: Wir brauchen alle Sinn und wir machen das alle ständig, dass wir bestimmten Dingen in unserem Leben eine bestimmte Bedeutung geben, das machen eben nicht nur religiöse Menschen.

Kirche wird oft getragen von loyalen und gutherzigen Gemeinschaften, die aber nach innen eine strenge Hierarchie haben und ganz klare Vorstellungen, wie jemand zum Heil kommt. Und wenn das für die Person nicht passt? Dann wird es passend gemacht. Spirituelle Vernachlässigung nennt Wagner dies. Die geht für sie fließend über in Manipulation, wenn „jemand kommt und sagt: ‚Ich hab‘ hier diesen einen großen Sinn und du gehörst zu einer Gemeinschaft von Leuten, die das auch noch teilen, und das ist super und alle um dich rum strahlen und erzählen dir, wie wunderbar und wie großartig dieser geistliche Führer ist, den sie haben, dann ist man maximal verführbar, in so eine Gruppe hineinzukommen – spirituelle Manipulation macht einen glauben, man würde selbst Erfahrungen haben und dabei ist das jemand anders, der das inszeniert, mit dem Ziel, jemanden auszubeuten.“

In den Gefängnissen haben GefängnisseelsorgerInnen eine besondere religiöse Verantwortung. Hier sind Menschen in einer Zwangssituation untergebracht und dabei auch auf der Suche nach Halt und Sinn. In dieser Krisensituation können Gefangene beeinfluss – und manipulierbar in alle Richtungen sein. Im Gefängnis greifen manches mal Mechanismen und Motive ineinander über, die nicht leicht durchschaubar sind. Sehr schnell wird dem Seelsorger „nach dem Mund geredet“ oder der Rosenkranz wird angeblich lebenswichtig, obwohl derjenige dazu keinen wirklichen Bezug hat. Als Seelsorger im Gefängnis werde ich automatisch mit meiner Persönlichkeit „positiv manipulieren“ können. Ich darf aber meinem Gegenüber nicht mit meinen Glaubenswahrheiten einengen und Versprechungen machen: „Wenn Du in der Bibel liest, wird Gott Dich erretten…“

In der Dokumentation „Missbrauch in der katholischen Kirche: Eine Frau kämpft um Aufklärung“ geht es um den Missbrauch von Ordensmitgliedern und Angehörigen geistlicher Gemeinschaften durch Kleriker. Dokumentiert durch das Bayrische Fernsehen gibt es eine Aussprache zwischen der ehemaligen Ordensfrau Doris Wagner und Kardinal Christoph Schönborn aus Wien.

 

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