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Schrecken harte Strafen von Verbrechen ab?

11. November 2021

Strafen heißt, mit Absicht Übel zufügen. Geschieht dies durch staatliche Stellen, bedarf es einer formalen, aber auch inhaltlichen Legitimation. Verschiedene Straftheorien bieten hierzu aus Ethik und Vernunft abgeleitete Grundlagen. Eine Kriminalstrafe bedeutet, mit absichtlicher Übelzufügung durch staatliche Organe auf kriminelle Taten zu reagieren. Nicht erst die Strafe ist eine Übelzufügung, bereits das Strafverfahren beschneidet die Freiheits- und Persönlichkeitsrechte der Beschuldigten. Das Strafverfahren ist ein Zwangsverfahren.

Selbst wenn es mit einem Freispruch endet, wird mit dem Ermittlungsverfahren, dem Anklagevorwurf sowie der – öffentlichen – Hauptverhandlung in das Persönlichkeitsrecht eingegriffen. Über die Bloßstellung in der Öffentlichkeit kann eine Anklage zum wirtschaftlichen Ruin oder zum Verlust von gesellschaftlichen und politischen Ämtern führen. Strafe ist niemals Wohltat, mag sie auch noch so gut gemeint sein. Für eine solche staatlich angeordnete und durchgeführte Übelzufügung bedarf es einer besonderen Legitimation, und zwar nicht nur einer formalen, das heißt durch Gesetz abgesicherten, sondern auch einer inhaltlichen Legitimation, die sich aus Ethik und Vernunft ableitet. Hierzu wurden und werden sogenannte Straftheorien entwickelt.

Harte Strafen schrecken nicht ab – eine frühe Stimme

„Geschichte, Erfahrung, und die Kenntniß der menschlichen Natur widersprechen der Ansicht, daß nur harte Strafen von Verbrechen abschrecken. Hätte man die Erfahrung gefragt, so würde sie belehrt haben, daß an harte Strafen und an ihre Vollziehung Niemand glaubt, weil jeder weiß, daß in die Länge ohne Grausamkeit solche Strafgesetze nicht gehalten werden können; daher auch jedes harte Strafgesetz die Versicherung einer baldigen Aufhebung in sich trägt.

Wird die Strafe auch am Anfange vollzogen, so fordert ihre Härte um so mehr zur Klugheit auf, das Verbrechen so zu verüben, daß keine Entdeckung zu fürchten ist, und jeder Bürger hält es für Pflicht, den Unglücklichen, den eine so harte Strafe treffen soll, zu retten; an eine Anzeige wäre nicht zu denken, da natürliche Scheu jeden Bürger abhielte, einer so grausamen Justiz einen Verbrecher in die Hände zu liefern; und selbst im Falle des Zeugnisses sucht jeder, weil er nicht beitragen mag, das harte Gesetz zu vollziehen zu helfen, so gut es möglich ist, zum Vortheile des Angeschuldigten auszusagen.

Der Staat aber verliert nicht bloß den erwarteten Vortheil, vom Verbrechen abzuschrecken, sondern bewirkt durch seine harte Strafe, daß schwerere Verbrechen verübt werden, als wohl sonst der Fall gewesen sein möchte, da jeder, wenn er einmal weiß, daß die Strafe hart ausfalle, lieber mehr wagt und seine Lust durch ein größeres Verbrechen befriedigt, das auch die Mühe lohnte. Es war ein trauriges Verkennen einer nahe liegenden Wahrheit, was die Rechtslehrer und Gesetzgeber irre führte; nicht die Härte der Strafen, sondern die Gewißheit, daß die im natürlichen Verhältnisse mit jedem Verbrechen stehende Strafe unvermeidlich den Verbrecher ereile, ist ein Abhaltungsmittel von Verbrechen. Daher hat der Criminalprozeß eine vorzügliche Bedeutung für die Strafe, und die zweckmäßigste Einrichtung desselben, nach welcher jeder Schuldige am sichersten und schnellsten von seiner verdienten Strafe ereilt wird, ist die sicherste Bedingung der Wirksamkeit des Strafgesetzes.“

Carl Joseph Anton Mittermaier
Grundfehler der Behandlung des Kriminalrechts in Lehr- und Strafgesetzbüchern, Bonn 1819, S. 54 ff

Strafbedürfnisse

Strafbedürfnisse sind in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu finden. So sanktioniert man etwa im Sport Verstöße gegen die Spielregeln. Nach Ansicht des französischen Soziologen Émile Durkheim (1858–1917) verlangt das Gemeinschaftsbewusstsein nach Reaktionen, wenn anerkannte Normen verletzt werden. Diese können Strafen, aber auch andere Maßnahmen zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens sein. Tatsächlich begegnen uns zumindest nach schweren Verbrechen lautstark geäußerte Strafbedürfnisse. Die tieferen Beweggründe dafür müssen hier unbestimmt bleiben – seien sie gespeist aus einem natürlichen Empfinden, aus einem anerzogenen Gefühl, aus rationaler Überlegung zum Selbstschutz der Gemeinschaft, aus Ohnmacht, mangels alternativer Lösungen oder aus Sadismus.

Derartige kollektive Strafbedürfnisse werden aus psychologisch-psychoanalytischer Sicht durch strafende Reaktionen auf Verbrechen kanalisiert und letztendlich befriedigt. Überschäumende Strafbedürfnisse (Lynchjustiz) sollen bezähmt werden. Aus dieser Perspektive dienen Strafen aber bereits konkreten Zwecken: Wiederherstellung des Rechtsfriedens und Stärkung des Rechtsbewusstseins. Daneben gibt es auch ein Genugtuungsinteresse der verletzten Person selbst. Opfer von schweren Straftaten können vielfach das erlittene Leid besser verarbeiten, wenn sie sehen, dass die Täter bestraft werden.
Von kollektiven Strafbedürfnissen ist das individuelle Strafbedürfnis des Straftäters, das eigene Verlangen nach Sühne und Genugtuung, zu unterscheiden. Es gibt eine Straftheorie, der zufolge der Sinn der Strafe – auch – darin liegt, dem Straftäter die Verarbeitung seiner Schuld zu ermöglichen, zu sühnen. Ohne offizielle Strafe könne dieser für die psychische Stabilisierung notwendige Reinigungsprozess – bei vorhandenen Strafbedürfnissen – schwerlich durchgeführt werden. Die Strafe ist hiernach notwendig für den Täter.

Absolute Straftheorie

Die absolute Straftheorie bestreitet, dass es legitim ist, mit Strafe Zwecke zu verfolgen – Strafe hat zweckfrei zu sein, ist absolut. Für die absolute Straftheorie ist allein der Grund für eine Strafe von Belang, einen über die Bestrafung hin ausweisenden Zweck erkennt sie nicht an. Immanuel Kant (1724–1804) als ihr wichtigster Vertreter formulierte in der Rechtslehre seines Werkes „Metaphysik der Sitten“: „Richterliche Strafe […] muß jederzeit nur darum wider ihn [den Verbrecher] verhängt werden, weil er verbrochen hat.“ Strafe wird danach nur um des reinen Strafens willen verhängt, irgendein staatlicher oder individueller Nutzen kann damit nicht verbunden werden.

Weiter heißt dies in letzter Konsequenz nach Kant: „Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (zum Beispiel das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander zugehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann.“ Strafe bedeutet nach dieser Theorie nicht mehr die Befriedigung persönlicher Rache- oder Genugtuungsbedürfnisse, sondern dient der Verwirklichung des Ideals von Gerechtigkeit. Auch nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) verlangt die Weltordnung – nach der Negation des Rechts durch die Straftat – nach der Strafe als Negation der Negation. Strafe ist Vergeltung von Übel mit Übel.

Mit freundlicher Genehmigung: Heribert Ostendorf | Bundeszentrale für Politische Bildung

 

Prof. Dr. Heribert Ostendorf, geb. 1945, 4½ Jahre als als Jugendrichter tätig. Anschließend lehrte er 8 Jahre als Professor für Strafrecht an der Universität Hamburg. Von 1989 bis 1997 war er Generalstaatsanwalt in Schleswig-Holstein. Von Oktober 1997 bis Februar 2013 leitete er die Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ostendorf hat neben Lehrbüchern und Gesetzeskommentaren zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen publiziert, vor allem zum Jugendstrafrecht.

 

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