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Tränen zwischen Schmerz und Glück geweint

21. März 2020

Für den Herbert Haag Preis hat die gleichnamige Stiftung dieses Jahr Menschen ausgewählt, die sich für mehr Akzeptanz in den christlichen Kirchen gegenüber homosexuellen Lebensformen einsetzen. Einer von ihnen ist der Schweizer Theologe und Autor Pierre Stutz, der mit seinem Mann in Osnabrück lebt. Mit ihm sprach das schweizer Pfarreiblatt forumKirche darüber, wie er sein Outing als schwuler Priester in der katholischen Kirche erlebte und was ihm die Verleihung des Herbert Haag Preises bedeutet.

Sie haben 2002 Ihr Priesteramt niedergelegt. Was hat Sie damals zu diesem Schritt bewogen?

Ich lebte immer in der Diskrepanz, Priester sein zu wollen und dies als Schwuler von kirchlicher Seite her nicht zu dürfen. Ich bin nach wie vor ein priesterlicher Mensch, begabt mit dieser spirituellen Kraft, die ja ein Geschenk ist. Meine Entscheidung hat sich in zwei Etappen entwickelt: Als ich 1990 als Bundeseelsorger arbeitete, hatte ich ein zweijähriges Burnout, das – wie sich herausstellte – mit dieser inneren Auseinandersetzung zusammenhing. Ich war damals unfähig, über mein Schwulsein zu reden. Durch eine tolle geistliche Begleitung wurde mir klar, dass ich nicht mehr zölibatär leben darf, weil mich das sonst krank, ja tief depressiv macht.

Danach ist mir die Möglichkeit zugefallen, ein offenes Klosters in Neuchâtel mitzugestalten. Ich habe alle Kraft zusammengenommen und habe neu angefangen. Ich dachte, wenn ich jetzt in diesem klösterlichen Rahmen einen gesunden Lebensrhythmus finde zusammen mit dem Schreiben von Büchern und Begleiten von Menschen, dann beruhigt sich meine innere Not wieder. Aber je grösser mein Erfolg war, desto mehr hat sich meine Seele gewehrt. 2001 stellte sich bei mir wieder eine monatelange Schlaflosigkeit ein. Niemand hat mich verstanden. Ich war ein erfolgreicher Buchautor, das offene Kloster war ausgebucht und ich wurde immer gekrümmter, immer depressiver. Die innere Not war grausam. Verantwortungsvoll wie ich war, wollte ich das Weiheversprechen, das ich einmal gegeben habe, nicht auflösen. Obwohl mir schon 1999 durch Exerzitien eigentlich klar geworden war, dass ich es vor Gott, vor mir und vor den anderen nicht mehr verantworten konnte, so weiterzuleben, hat es nochmals zwei Jahre gebraucht, bis ich mich outen konnte.

Was hat sie davon abgehalten?

Ich habe mir das Schlimmste vorgestellt, dass ich keine Kurse mehr geben kann, dass ich irgendwo als Tellerwäscher arbeiten muss. Aber ich wusste auch, dass ich das schon schaffen werde, dass mir das Schreiben niemand nehmen kann. Aber es kam nicht so schlimm wie befürchtet.

Wie hat sich seit dieser Zeit die Haltung in Gesellschaft und Kirche gegenüber Homosexualität verändert?

Gesellschaftlich hat sich sehr viel geändert. Als ich meinen Lebenspartner ein Jahr später kennen lernte, lebten wir zunächst „verpartnert“ in der Schweiz. Dann haben wir in Deutschland geheiratet, als dies dort möglich wurde. Homosexualität bleibt allerdings weiterhin ein Thema, wie man es beim Outing des Schwingers Curdin Orlik gesehen hat. Besonders bei Sportarten, die als besonders männlich gelten, ist so etwas ein riesen Ding. In manchen Ländern sind Homosexuelle immer noch gefährdet oder es droht ihnen die Todesstrafe. Nach meinem Coming-out war genau das Gegenteil der Fall. Ich habe eine Akzeptanz erfahren, die mich immer wieder zu Tränen rührt.

Schon damals haben viele Kirchenmitglieder gesagt: Wir brauchen mehr denn je authentische Menschen, die verlogene Doppelmoral darf nicht weitergehen. Die kirchliche Lehre hat sich leider nicht geändert. Sie ist nach wie vor unglaublich verletzend. Durch die Art von Papst Franziskus ist allerdings ein Klima entstanden, in dem man mehr oder weniger normal über Homosexualität reden kann, was vorher tabu war. Vorher hat mich kaum jemand im kirchlichen Kontext auf meine Partnerschaft angesprochen, obwohl ich damit offen umgegangen bin.

Das Thema Homosexualität steht ähnlich wie die Frauenfrage in einem grösseren Kontext, nämlich der notwendigen Versöhnung von Sexualität und Spiritualität. Sexualität ist ja ein Geschenk Gottes, in ihr können auch heilige Momente erfahren werden. Wenn der Dualismus zwischen den beiden Polen nicht aufgehoben wird, haben es Minderheiten schwer. 2015 haben Sie das Buch „Deine Küsse verzaubern mich – Liebe und Leidenschaft als spirituelle Quellen“ veröffentlicht. In diesem versuchen Sie diese Verbindung von Sexualität und Spiritualität aufzuzeigen… Mir ging es darum, alle Lebensvollzüge spirituell zu deuten. Das Religiöse und das Geschlechtliche sind unsere stärksten Lebenskräfte. Wir dürfen sie nicht zu Feinden erklären, was aber letztlich geschehen ist. Friedrich Nietzsche schrieb: „Das Christentum gab dem Eros Gift zu trinken – er starb zwar nicht daran, aber entartete, zum Laster.“ Sexualität kann eine zerstörerische Gewalt sein, ebenso wie die Wut. Aber ein gläubiger Mensch darf sie nicht verteufeln, weil er sich dann noch mehr von ihr entfernt und diese Kraft verliert. Hier gibt es noch unglaublich viel zu tun.

In dieser Hinsicht haben alle Weltreligionen ein grosses Defizit. Sie klammern die Sexualität aus und beschränken sich darauf, über das Geistige zu reden. Auch in der evangelischen Tradition ist Sexualität kaum ein Thema. Es fehlt die Sprache, Seelsorgende trauen sich kaum darüber zu reden. Im Christentum ist dies besonders tragisch, weil es auf dem Hintergrund des Johannesevangeliums („Und das Wort ist Fleisch geworden“) geradezu verpflichtet ist, Leiblichkeit bewusst zu leben.

Zusammen mit anderen wird Ihnen der Herbert Haag Preis verliehen. Welche Bedeutung hat für Sie diese Auszeichnung? Was kann sie bewirken?

Als ich die Nachricht erhalten habe, war ich so erschüttert. Ich habe minutenlang nur geweint – Tränen zwischen Schmerz und Glück. Mein ganzes Leben war wie im Film da, eben dieser ganze Leidensdruck, was ich mir alles angetan habe. Es hat mich auch berührt, dass ich einer von mehreren Preisträgern bin. Deren Auswahl ist sehr klug: eine Gruppe und Einzelpersonen, die sich an verschiedenen Orten für die Akzeptanz von Homosexualität einsetzen. An den Reaktionen hat man schon gesehen, dass so ein Preis ein Thema gesellschaftlich in die Diskussion bringen kann. Und die Haltung zur Homosexualität ist nach wie vor ein Thema. Ich bin überzeugt, dass Gottes Liebe viele Melodien kennt, und könnte verzweifeln, wenn sich eine Religion anmasst festzulegen, wo Gottes Liebe erfahrbar ist, z. B. nur wenn Mann und Frau sich lieben. Dass Gott so kleinkariert sein kann, widerspricht meiner Erfahrung in der Auseinandersetzung mit der Mystik, in der sich eine ganz andere Weite entfaltet.

Was wäre der nächste Schritt, den die katholische Kirche auf Homosexuelle zugehen könnte?

Der nächste Schritt wäre, dass öffentliche Segnungsfeiern von homosexuellen Paaren möglich sind. Das wäre aus meiner Sicht ein kleiner, realpolitisch möglicher Schritt. Aber letztlich ist mir das zu wenig. Ich erfahre die Liebe mit meinem Mann als Sakrament. Und das sage ich bewusst als katholischer Christ. Sakrament bedeutet: in unserer Liebe ereignet sich die Liebe Gottes. Das ist für mich jeden Tag ein Geschenk, natürlich auch Arbeit – schön und zugleich anspruchsvoll. Ich weiss, dass die Eheschliessung homosexueller Paare genauso utopisch ist wie das Frauenpriestertum, aber ich werde mich wie schon die letzten 30 Jahre für beides einsetzen. Ein zweiter Schritt wäre, dass noch mehr lesbische Frauen, bzw. schwule Männer in Pfarrgemeinderäte gewählt werden, dass dies zu einer Normalität wird.

Und schliesslich würde ich schwule Priester – und auch lesbische Pastoralreferentinnen ermutigen: „Zeigt euch, geht den aufrechten Gang, ohne euch würde die Seelsorge zusammenbrechen.“ Denn der Anteil schwuler Priester beträgt bis zu 50 Prozent. Das zeigen auch die homophoben Erklärungen aus dem Vatikan. Sie kommen von homosexuellen Männern, die ihre eigene Sexualität bekämpfen. Es war ein riesiger Rückschritt, dass Papst Franziskus 2016 die von Papst Benedikt XIII. erlassenen Richtlinien bestätigte, in denen festgelegt wird, dass homosexuelle Menschen nicht Priester werden dürfen. Das ist diskriminierend. Da steht der grausame Satz, dass sie nicht die Fähigkeit besitzen, gesunde Beziehungen zu Frauen und Männern aufzunehmen. Wenn sich alle homosexuelle Priester outen würden, bedeutet das nicht, dass sie nicht zölibatär leben. Aber dieser Schritt könnte die Stigmatisierung ein Stück weit aufheben.

Interview: Detlef Kissner | Mit freundlciher Genehmigung: forumKirche

forumKirche wird von der römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Schaffhausen, der katholischen Landeskirche Thurgau und der Genossenschaft „Pressverein“ herausgegeben. Ihr gehören Seelsorgende der Pastoralräume und Pfarreien sowie der Bistumsregionalleitung an.

Herbert Haag Preis 2020

Neben Pierre Stutz nominierte die Herbert Haag Stiftung folgende Preisträger:

    • Dr. Hedwig Porsch verlor ihre Arbeitsstelle bei der katholischen Kirche, als sie sich outete. Heute ist sie evangelische Pfarrerin in Coburg.
    • Dr. Ondrej Prostredník wurde von der lutherischen Kirchenführung die Lehrerlaubnis entzogen, weil er religiöse Intoleranz gegenüber Homosexuellen kritisierte. Er arbeite heute als Missionsmitarbeiter in Bratislava.
    • Die ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche (HuK) setzt sich seit 1977 unermüdlich mit dem Konfliktfeld Homosexualität in Kirche und Religion auseinander.

Die Preisverleihung wurde wegen des Corona-Virus auf den 7. März 2021 verlegt.

 

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