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Die Biografiearbeit spielt eine besondere Rolle

15. Januar 2020

In der JVA Willich gibt es einen Zusammenschluss von Männern, die den Rosenkranz beten. © Ann-Katrin Roscheck

„Der Gefangene ist keine Straftat, sondern er ist ein Mensch, darauf müssen wir unseren Blick richten“, sagt Georg Schmalen bedächtig. „Inhaftierte auf den richtigen Weg zu bringen, können wir nur erreichen, wenn sie selbst ihre Stärken wiederentdecken. Dabei kann der Glaube helfen.“ Es ist eine sehr bewusste Entscheidung, die der Aachener vor mehr als 13 Jahren trifft: Als Gefängnisseelsorger möchte er sich derer annehmen, die sonst fast übersehen werden. Er möchte für diejenigen da sein, die am Rand der Gesellschaft stehen.

„Da wird das Gefängnis oft vergessen“, beschreibt er. Dabei hat die Bischofskonferenz schon vor vielen Jahren ein Papier über den Auftrag der Kirche im Gefängnis veröffentlicht. „,Denkt an die Gefangenen, als wäret ihr mitgefangen‘ (Hebr 13,3a), das ist der Leitspruch der Gefängnisseelsorge“, erklärt Schmalen. „Die Befreiung der Gefangenen spielt in der Bibel eine große Rolle.“ Und so kommt es, dass der Gefängnisseelsorger gleich zwei Wirkungskreise vorweisen kann: An zwei Tagen in der Woche besucht er als Seelsorger die Forensische Psychiatrie in der LVR-Klinik Düren, an drei Tagen ist er Anlaufstelle für Männer in der JVA Willich 1. „Ich möchte den Gefangenen andere Wege zeigen, ihr Leben zu gestalten“, erklärt der Familienvater. „So kann ich meinen Teil zu ihrer Lebensgeschichte beitragen. Ich kann mich daran beteiligen, dass sie nach ihrer Haftstrafe nicht wieder straffällig werden.“

Nicht moralisieren, sondern Verstrickungen in den Lebensgeschichten suchen

Dabei sind in der JVA Willich 1 vor allem diejenigen inhaftiert, die mit schweren Delikten auf den falschen Weg gekommen sind: Im Stadtteil Anrath sitzen 424 Männer mit Freiheitsstrafen von 24 Monaten bis hin zu einer lebenslangen Haft ein. Auch Untersuchungsgefangene aus dem Landgerichtsbezirk Krefeld werden hier untergebracht. Über Anträge erwirken sie Gesprächszeit mit dem Seelsorger. „Die Seelsorge hat hier schon einen anderen Stand“, erklärt Schmalen. „Ich unterliege dem Seelsorgegeheimnis, das ist anders als in allen anderen Fachbereichen im Gefängnis. Die Gefangenen müssen keinen Grund angeben, um mit mir zu sprechen, sie äußern einfach den Bedarf.“

Und die Anliegen der Männer sind dabei vielfältig: Fragen einige den Pastoralreferenten in der alten Tradition nach Tabak und Kaffee, sprechen andere Inhaftierte mit ihm über die Schwierigkeiten, Beziehungen aus dem Gefängnis aufrecht zu erhalten, über die Sorge um die Familie, über Einsamkeit und natürlich über Schuld. „Eine Resozialisierung und ein Neuanfang können für die Gefangenen oft nur durch Vergebung erreicht werden“, sagt der  Aachener. „Ich arbeite hier nicht moralisierend, sondern ich suche mit den  Männern nach Verstrickungen in ihrer  Lebensgeschichte.“ Denn auch die Statistik beweist: Wer straffällig wird, kann oft besondere Muster in seiner Biografie nachweisen.

Nicht dokumentieren, nicht melden, nur zuhören und im Gespräch unterstützen

Schmalen ist sich sicher, dass zwar jeder die Schuld für sein Handeln trägt, aber die Gründe dafür vielfältig sein können. Biografiearbeit spielt deswegen eine besondere Rolle in seinem Wirken. Dafür ist er speziell ausgebildet: Vor allem bei sehr langen Haftstrafen begleitet er die Männer mit Gesprächen oft über viele Monate. Sie sprechen mit dem Seelsorger über ihre Kindheit, über eigene Verletzungen und Erniedrigungen, aber auch immer wieder über ihre Taten. Schmalen muss nicht dokumentieren, er muss nicht melden, er kann einfach nur zuhören und im Gesprächsprozess unterstützen.  Sein eigener Glaube hilft ihm dabei, für sich selbst persönliche Grenzen zu ziehen, denn als fünffacher Vater treffen auch ihn die Erzählungen der Gefangenen.

„Gerade pädophile Straftaten machen mir zu schaffen“, gibt der 59-Jährige zu. „Aber jeder Mensch ist ein Abbild Gottes, und Gott kann verzeihen. Darauf berufe ich mich.“ Und so schenkt der Pastoralreferent jedem Gefangenen, der ihn darum bittet, einen Segen, egal, aus welchem Grund er in der JVA unterbracht ist. „Das bedeutet nicht, dass mich die Geschichten nicht selbst treffen“, erklärt Schmalen. „Ich bekomme mit, wovon andere Menschen in ihrem Alltag bewusst Abstand nehmen.“

Für sich selbst hat der Aachener deswegen Mechanismen entwickelt, die ihm dabei helfen, die Straftaten und persönlichen Geschichten der Männer nicht mit nach Hause zu nehmen. Supervision gehört in der Seelsorge dazu, genauso setzt sich der Seelsorger aber nach jedem Arbeitstag in die große, helle Kirche der JVA Willich, um mit einem Gebet in der Bank den Tag Revue passieren zu lassen. Er übergibt Gott seine Gedanken und befreit sich von möglicher Last.  Auch samstags betet Schmalen in der Kirche, dann wird er von bis zu 40 Gefangenen begleitet, die den wöchentlichen Gottesdienst aufsuchen. Bibelarbeit und selbst das Rosenkranzbeten haben in der JVA eine lange Tradition.

Schmalen stellt ein ungewöhnlich hohes Interesse an der Kirche und dem Glauben fest. Es gebe eine große russisch-orthodoxe Gruppe im Gefängnis, erzählt er, auch muslimische Männer und Protestanten werden durch Kollegen betreut. Immer wieder komme es auch vor, dass sich Männer in der JVA taufen ließen. „Das gehört dann zum Neuanfang dazu“, beschreibt er.  Einen besonderen Stellenwert bei der kirchlichen Arbeit in der JVA genießt deswegen auch die Biografie Jesu, denn auch er schaffte nach seiner Verurteilung und dem Tod am Kreuz durch die Auferstehung einen Neuanfang.

Unter dem Motto „Bibel hinter Gittern: Einsichten in die Akte Jesus N.“ nimmt Schmalen fast wie in einem Gerichtsprozess die Bibel jeden Dienstagabend mit zehn Gefangenen unter die Lupe. Gemeinsam arbeiten sie auf, warum Jesus verurteilt wurde, wie er starb und auch, wer an seinem Tod beteiligt war. Mit dem Kapitel „Lebenskontrolle: Sie gehen weiter. Einer geht mit.“ schließt der Kurs ab. „Wir glauben an einen Gott, der selbst mit Verbrechen in Verbindung gebracht wird“, erklärt Schmalen und schmunzelt. „Für die Gefangenen ist das eine wichtige Einsicht. Denn es hilft ihnen, ihre Lebensgeschichte noch einmal neu zu überdenken und aus eigenen Ressourcen zu schöpfen.“

 KirchenZeitung Bistum Aachen, 03/2020 | Ann-Katrin Roscheck

 

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