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Resozialisierung mit Tanz den Alptraum: Film „fly“

14. Oktober 2021

Schon immer wollte Bex (Svenja Jung) nur eins: fliegen. Das ist ein bisschen schwierig, seit sie wegen eines fahrlässig verursachten Verkehrsunfalls im Gefängnis sitzt. Zwar läuft die Haftstrafe demnächst ab, doch den ersten Schritt zur Resozialisierung verweigert Bex rundweg: an einem Tanzworkshop teilzunehmen. Die rebellische 20 jährige weiß, wie solche gut gemeinten Angebote der Anstalt in der Regel ankommen. Nach spätestens fünf Minuten ist der neueste Tanzlehrer wieder rausgeekelt. Aber Anwältin Dr. Goldberg (Katja Riemann) und Pädagogin Sara (Nicolette Krebitz) geben nicht auf. Sara reaktiviert eine alte Bekannte und ehemals beste Freundin, einen früheren Star der Breakdance-Szene: Ava (Jasmin Tabatabai) könnte die einzige sein, die mit den Knackis klar kommt. Weil sie selbst die Degeneration von authentischem Hiphop zur pädagogischen Besserungsmethode hasst. Und an den getanzten Schrei nach Veränderung glaubt.

Eine typische, allerdings architektonisch reizvolle deutsche Behörde: Formulare rascheln, Kopierer piepsen, Stempel knallen. Eigentlich ein provokativer Ort für eine Truppe von Häftlingen auf Freigang. Doch die jungen Leute lassen sich von der Geräuschkulisse anregen. Sie wippen im Takt der Kopierer, fühlen den Rhythmus, springen auf, erobern das Gebäude mit ihren Tricks und Moves. Es ist ein Fest der Underdogs. Sie holen sich den öffentlichen Raum zurück, funktionieren ihn um zu ihren Zwecken, drücken ihm ihren Stempel auf – mit einer staunenswerten Mischung aus Kraft und Eleganz, aus Aggression und Zärtlichkeit.

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Fotos: © Studiocanal

Jede Treppe ein künstlerischer Akt

Die Stadt Berlin, ihre Straßen, Plätze oder Museen sind die Bühne für den Tanzfilm. Schon zu Beginn, wenn Bex von ihren Träumen und Alpträumen erzählt, schneidet die virtuose Montage in eine Metropole, die wahrhaft zu fliegen scheint. Junge Leute schlagen Salti über Autos, hüpfen an Brückengeländern entlang, nutzen quasi jede Mauer, jede Treppe für einen künstlerischen Akt. Wie im Musical reihen sich kunstvoll choreographierte Tanzszenen wie eine Perlenkette aneinander, unterbrochen von Handlungsmomenten, die vor allem die Funktion haben, zur nächsten Attraktion über zuleiten.

Die visuellen Feuerwerke brennen höchst professionell ab. Von den Tänzern ist Svenja Jung (Die Mitte der Welt, 2016) praktisch die einzige erfahrene Schauspielerin. Alle anderen tanzen bei der renommierten Tanztruppe „Flying Steps“ oder tragen einen Weltmeistertitel im Hiphop, wie Majid Kassib in der Rolle des charismatischen Fahid oder Ben Wichert, der als „Love Interest“ von Bex in seiner ersten Kino-Hauptrolle zu sehen ist.

Grundstruktur wie bei Bandits

Von der Handlung darf man nicht allzu viel erwarten, zumal Regisseurin Katja von Garnier (Abgeschminkt, 1993) ihre Jugendfilm-Erfahrungen aus der Ostwind-Trilogie mit der Grundstruktur ihres Hits Bandits (1997) kombiniert. Dass daran erinnert werden soll, lässt sich allein aus der Besetzung ablesen. Katja Riemann, Nicolette Krebitz und Jasmin Tabatabai spielten damals Frauen, die im Gefängnis saßen und ebenfalls an einer Resozialisierungsmassnahme teilnehmen sollten. Vor fast 25 Jahren war es die Musik und die Gründung einer Band, die aus den Einzelkämpferinnen eine Gemeinschaft formte, der ausgerechnet bei einem Polizeiball die Flucht gelang. Heute ist es eben der Tanz, der die positive Veränderung bewirkt und die damaligen Hauptdarstellerinnen nun in bürgerlichen Rollen wiedervereint. Das allein wäre nicht schlimm und auch der skizzierte therapeutische Effekt ist an sich nicht verkehrt. Aber die einzelnen Schritte in Bex’ Wandlung sind derart aus erzählt und durch buchstabiert, dass sich selbst ein jugendliches Publikum heillos unterfordert fühlen muss. Ein paar zarte Andeutungen oder Auslassungen hätten der Glaubwürdigkeit gut getan. Zumal der Film damit eine didaktische Absicht durchblicken lässt, die er mit der berechtigten Skepsis der Knackis gegenüber oberflächlicher Beschäftigungstherapie eigentlich kritisiert.

Tanz den Alptraum

Das Kraftzentrum des visuell beeindruckenden Films liegt allerdings sowieso nicht in der Erzählung. Beeindruckend ist vor allem, wie sich selbst kleinste Alltagssituationen in Bewegung und Kunst verwandeln. Auch der Schlaf ist davon nicht ausgenommen, etwa wenn sich Bex in ihrer engen Zelle im Bett wälzt und sich gegen das geträumte Wasser wehrt, das unter der Tür herein flutet und sie zu ertränken droht. Die Choreographen machen daraus einen Tanz der Angst, der Enge und des Widerstands. Und wenn sie die Zelle verlassen und die Knackis beim Freigang begleiten, gewinnen ihre Arrangements der Metropole Berlin ganz neue Seiten ab.

Peter Gutting | Mit freundlicher Genehmigung: film-rezensionen.de

 

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