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Vom Nutzen der Seelsorge für die Gefangenen

11. Februar 2020

Können die Religionen zum Gelingen des Lebens beitragen? Ein Vortrag [1] des ehemaligen Gefängnisseelsorgers, Dieter Wever, aus Münster.

Von Fulbert Steffensky leihe ich mir den ersten Satz meines Vortrags: „Von uns alten Leuten sagt man, dass ihnen die Zähne ausfallen, aber der Glaube sei fester als früher. Es stimmt nur das Erste.“ Der 86 jährige emeritierte Theologieprofessor plädiert dafür, das Gelingen nicht zu ernst zu nehmen. „Nichts gelingt uns ganz, nicht einmal unser Glaube. Er muss auch nicht gelingen, es ist uns erlaubt, Fragment zu sein.“ [2] Ich habe mich damit beschäftigt, wie theologisch und zugleich erfahrungsbasiert über das Gelingen des Lebens gesprochen werden kann.

Glaubenssätze haben den Zweck, menschliche Erfahrungen zu deuten. Das Thema der Tagung ist vermutlich auch gewählt worden, weil der Schwerpunkt häufig auf den Schmerzseiten des Lebens liegt. Das ganze seelsorgliche Feld kommt erst mit der Wahrnehmung gelingenden Lebens und mit dem Ernstnehmen der gebrochenen Existenz zusammen in den Blick. Die Aufführung des Musicals „Martin Luther King“ in Münster mit über 900 Chorsängerinnen habe für „Gänsehaut-Atmosphäre“ gesorgt, schreibt die Tageszeitung. „Kirchentagsstimmung“. Am gleichen Tag wird darüber berichtet, wie Neven Subotic als ehemaliger BVB-Spieler von der Südtribüne gefeiert wurde. „Das ist für mich etwas, was ich mir sonst gar nicht vorstellen könnte, da vor 25.000 auf der Süd zu stehen und diese Wertschätzung zu erfahren – das ist unbeschreiblich.“ [3]

Offensichtlich werden durch begeisternde Massenveranstaltungen oder durch sogenannte Gipfelerlebnisse außeralltägliche Erfahrungen gemacht. Was da geschieht, ist in gewisser Weise eine Entgrenzung des Selbst, die als „wirklich“ und nicht als Sinnestäuschung erlebt wird. Ich werde mich zunächst mit solchen Selbsttranszendenzerfahrungen beschäftigen. Die phänomenologisch orientierte Religionssoziologie beschreibt jenseits des „offiziellen Modells der Religion“ Erfahrungen, die das alltägliche Leben überschreiten. [4] Manchmal stellt sich Glück ein, das Leben gelingt, ohne dass danach gesucht wurde. Das kann dazu führen, dass ein solches Erlebnis das ganze Dasein trägt und Erinnerungen daran neue Kraft geben. Die ähnliche Struktur dieser Erfahrung mit der „Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens“ [5] liegt auf der Hand, sie wirft aber die Frage auf, worin sie sich unterscheiden.

Gibt es eine Verbindung von solchen Momenten gelingenden Lebens zum spezifisch Christlichen und was könnte das für die Seelsorge bedeuten?  Ich gehe von einer tiefen Gemeinsamkeit beider Bewegungen aus Zum Schluss lande ich wie Fulbert Steffensky beim alten Wort Gnade. „Es ist nicht nur ein religiöses Wort, es nennt die Grundstruktur eines humanen Lebens.“ [6] Gnade bezeichnet eine Erfahrung vom Gelingen des Lebens, ohne dass diese Erfahrung angestrebt wurde. Wir erleben das Gelingen unseres Lebens noch bevor wir versuchen, selbst zum Gelingen beizutragen.

Alle Dienste einer Justizvolzugsanstalt sprechen mit Inhaftierten.

Worin ist Gefängnisseelsorge nützlich?

Gefängnisseelsorgerinnen und Gefängnisseelsorger bekommen gelegentlich Besuch von offizieller Seite, im Kirchenrecht wird das als Visitation bezeichnet. Dabei geht es um gegenseitige Informationen, Beratung, um Aufsicht und Kontrolle. Laut evangelischem Kirchenrecht wird unter anderem geprüft, ob im Gefängnis „das Evangelium auftragsgemäß und gegenwartsbezogen verkündet“ und „der Dienst der Liebe an jedermann getan wird.“ Mein Vortrag soll sich auch mit der Frage beschäftigen, ob diese seelsorglichen Dienste zur Resozialisierung, zur Lebensbewältigung nach der Entlassung beitragen. Gelingt das Leben nach der Haft besser, wenn man zuvor das religiöse Angebot genutzt hat?

Wenn ich gedanklich bei der Durchführung der Visitation bleibe, dann ging es an diesem Tag zumeist um die Wertschätzung der Gefängnisseelsorge. Nach den üblichen Begrüßungen und Vorbemerkungen erhielt der Anstaltsleiter, die Anstaltsleiterin das Wort und es kam durchweg Nützliches und Hilfreiches zur Sprache. Aus verwaltungstechnischer und juristischer Sicht wäre die Zusammenarbeit mit der Seelsorge erfreulich, Konflikte seien in der Vergangenheit lösbar gewesen, das kirchliche Angebot sei kein Auslaufmodell, die Gehalte der Religion seien auch im modernen Strafvollzug von Nutzen.

Zuvor hatten die Visitierten einen ausführlichen Bericht, eine Art Rechenschaftsbericht über ihre alltägliche Arbeit zusammengestellt; das spielte am Visitationstag keine große Rolle. Der Focus war: Worin ist Gefängnisseelsorge nützlich, was trägt sie zum Leben und Arbeiten innerhalb der Mauern, was zum Erreichen des Vollzugsziels bei? Vor etwa zwanzig Jahren wurde der gesamte Justizvollzug daraufhin überprüft, ob die vorhandenen Behandlungsangebote weiterhin aufrecht zu erhalten sind.  Nur noch wissenschaftlich fundierte, differenzierte und auf ihre Wirksamkeit hin geprüfte Konzepte sollten zum Zuge kommen.

Als Maßstab aller vollzuglichen Tätigkeiten wurde die Legalbewährung nach der Haft definiert, mit der Folge, dass auch die staatlich mitfinanzierte Seelsorge sich befragen lassen musste, ob und wie sie zur straffreien Lebensbewältigung beiträgt. Manchmal schien es mir, als würden die Leiter und Leiterinnen der Justizvollzugsanstalten in der Visitation darum bemüht sein, das Selbstverständnis der Seelsorge in säkulare Sprache zu übersetzen und sie nach Kriterien der neu eingeführten Wirksamkeitsbestimmungen zu würdigen. Man wollte wohl – so mein Eindruck – die Ressourcen der Seelsorge nicht verlieren. Was sich auf der Ebene der Vollzugsanstalten abspielte, war zugleich ein Ausdruck des Zeitgeistes. Die Funktion der Religion im säkularen Staat wurde und wird weiterhin debattiert. Was haben Religionsgemeinschaften zu bieten, wenn es um gesellschaftliche Problemfelder geht? Genauer: Was kann der christliche Glaube leisten, wenn Gefangene auf ein „ein Leben in sozialer Verantwortung“ vorbereitet werden. Subversiv gefragt: Kann der Staat das nicht allein schaffen?

Ehrenamtliche Kontakte sind ebenso sehr wichtig für Gefangene.

Religion für Atheisten

Für den Londoner Philosophen Alain de Botton ist Religion auch im nachmetaphysischen Zeitalter nützlich. Man könne sich von Religion inspirieren lassen, ohne ihren übernatürlichen Inhalten zuzustimmen. Man brauche nur die Aspekte aus der religiösen Praxis herausdestillieren, die „sich angesichts der Krisen und Kümmernisse unserer endlichen Existenz auf einem unruhigen Planeten als zeitgemäß und tröstlich erweisen könnten“. [7]  Auch das Beten kann in diesem Sinne nützlich sein. „Ein christliches Gebet, welches im Wesentlichen aus Dank und Bitten besteht, enthält ein Wertschätzen von dem, was schon gut ist, und ein Benennen der Dinge, die anders werden sollen.“ [8] Der betende Mensch sortiert seine Wünsche und seine Zukunftspläne, er kann sich seine Bedürftigkeit eingestehen, wird dankbar und vermutlich weniger hochmütig.

Religiöse Veranstaltungen wecken den Gemeinschaftsgeist. Trotz tiefsitzender egoistischer und gewalttätiger Impulse wird Freundlichkeit im Umgang miteinander vorgelebt und dazu eingeladen. Das eigene Versagen und Scheitern, die eigenen Fehltritte, die tragischen Ereignisse, der Tod von geliebten Menschen, das Älterwerden, all das muss ertragen werden. Religion gibt Strukturen vor, die helfen mit dieser Realität klarzukommen.

Für De Botton sind Religionen voller interessanter Bilder, Ideen, Praktiken und Rituale. Sein Buch „Religion für Atheisten. Vom Nutzen der Religion für das Leben“ provoziert mit dem Schlusssatz „Religionen sind insgesamt gesehen zu nützlich, effektiv und intelligent, um sie allein den Gläubigen zu überlassen“. [9] Der funktionale Blick auf religiöse Praxis fordert heraus. Vor wenigen Monaten hat Jürgen Habermas auf dem Hintergrund der Geschichte der Philosophie auf 1700 Seiten das Verhältnis von Glauben und Wissen näher bestimmt. Weil Religion nicht einfach verschwindet, kann der „religiös unmusikalische“ Philosoph sich vorstellen, die Potentiale der Religion zu nutzen. Sie halte weiterhin wichtige Inhalte bereit, mit der sich Menschen selbstverständigen können.

Glaube benutzt auch andere Kulturformen

Können die Angebote der Gefängnisseelsorge, abgesehen von den Gottesdiensten, als zwischenmenschliche Hilfsmöglichkeiten mit Lebensschulcharakter verstanden werden? Seelsorge als Angebot zur Selbstverständigung auf der Grundlage von Erwachsenenbildung und therapeutisch orientierter Gespräche? Eine Schule des Lebens im kirchlichen Kontext? 1972 hatte der Nestor der Pastoralpsychologie Dietrich Stollberg die damals vorherrschende kerygmatische Orientierung in der Seelsorge herausgefordert und die Richtung vorgegeben: „Seelsorge dient nicht dem Christsein, sondern dem Menschsein.“ [11]

Mit dieser Zielsetzung bin ich 1979 in die Gefängnisseelsorge gegangen. Zusammen mit meinem damaligen Kollegen wurden in den Justizvollzugsanstalten Bochum und Bochum-Langendreer Modelle der Erwachsenenbildung ausprobiert. Ein Flyer mit den kommenden Veranstaltungen wurde fast jeden Monat neu verteilt. Wir wollten vor allem in den Abendstunden und am Wochenende Treffpunkte schaffen. In Gesprächsgruppen wurden nicht-alltägliche Themen erörtert, zudem sollten Themen des Glaubens im Alltag des Gefängnisses konkret werden und in ihrer Relevanz kommuniziert werden. Ich kann die funktionale Sicht auf die Religion nicht kritisieren. Auch der christliche Glaube benutzt andere Kulturformen, um eigene Anliegen auszudrücken. Die Gleichnisse der Bibel erzählen vom Gelingen des Lebens. Theater, Filme oder Literatur tun das manchmal auch. Sobald ich mich auf existentielle Fragen des Lebens einlasse, bin ich mit einer Vielfalt von Lebensformen und Überzeugungen konfrontiert. Es geht auf dieser Ebene nicht ums Rechthaben. Jeder Glaubenssatz kann auf das runtergebrochen werden, was er an menschlichen Erfahrungen beherbergt und sollte zunächst ohne Bewertung „wahr genommen“ werden können.

Biblischer Bezug: Paulus mit seinem Konflikt

Welche biblischen Hinweise gibt es, die gelingendes Leben beschreiben, war eine Frage des Vorbereitungskreises für diese Tagung. Wenn der Ausgangspunkt meiner Überlegungen menschliche Erfahrung ist, dann bietet sich ein Selbstzeugnis des Apostels Paulus im Römerbrief an:

Paulus beschrieb einen Konflikt mit sich selbst, den Zwiespalt zwischen den Ansprüchen an sich selbst und der Realität des eigenen Scheiterns und Versagens. Ich verstehe das so: Paulus hatte sich als von Gott angeredete Person erfahren und konnte sich an seine eigenen früheren Erlebnisse und Taten erinnern. Er schien einen Raum der Liebe vorgefunden zu haben, in dem er sich öffnen konnte. In diesem Bewusstseinsraum konnte er sich seine Schattenseiten ansehen, was zugleich eine Distanz zum inneren Zwiespalt möglich machte. Die Desidentifikation von seinen inneren Gemütszuständen befreiten ihn und öffneten den Blick.

Für den Benediktinerpater Anselm Grün ist diese persönliche Erfahrung des Apostels „eine Hilfe, die eigene innere Spannung auszuhalten zwischen dem was ich schreibe und verkünde, und der eigenen Brüchigkeit, die ich an mir erlebe“.  Und: „Die Erfahrung des Paulus gilt nicht nur für Seelsorger und Therapeuten, sondern für jeden Menschen. Wir möchten alle unsere Schwächen loswerden.“ [12] Ich will diese Grunderfahrung des Paulus ausweiten: Stellen Sie sich einen Menschen vor, dessen innere Stimme ständig kritisiert. Er hört Kommentare über das, was er macht. Der verinnerlichte erhobene Zeigefinger tut so, als ob er wüsste, was richtig oder falsch ist. Wenn Fehler gemacht werden, kann die Stimme hässlich werden, durchtränkt von Verachtung und Bedrohung. Ständige Angst vor diesen destruktiven Attacken kann die Folge sein. Die Stimme entmündigt und macht wehrlos.

Im Gespräch sein im Büro des Gefängnisseelsorgers.

Der Charakter und das Wesen

Stellen sie sich auf diesem Hintergrund einen Menschen vor, der wegen der fehlenden Selbstachtung permanent unter Druck steht. Die daraus entstehende Unsicherheit und das Auf-Anerkennung-Angewiesensein machten ihn unfähig, sich und andere wahrzunehmen. Das Empfinden der eigenen Gefühle ist eingeschränkt, denn im Vordergrund steht der Wunsch anders zu sein: „Sehnsüchtig grüßt der, der ich bin, den, der ich sein möchte. In dem Roman „Stiller“ von Max Frisch scheitert die Hauptfigur an diesem Konflikt. Stiller ist gespalten zwischen dem, was er sein will und dem, was er ist. Sein Freund Rolf stellt fest:

Wir sehen wohl unsere Niederlagen, aber begreifen sie nicht als Signale, als Konsequenzen eines verkehrten Strebens, eines Strebens weg von unserem Selbst […] [13] Allein, auch mit der Selbstannahme ist es noch nicht getan, solange ich die Welt überzeugen will, dass ich niemand anders als ich selbst bin, habe ich notwendigerweise Angst vor Missdeutung, bleibe ihr Gefangener kraft dieser Angst. … Ohne die Gewissheit von einer absoluten Instanz außerhalb menschlicher Deutung, ohne die Gewissheit, dass es eine absolute Realität gibt, kann ich mir freilich nicht denken […], dass wir je dahin gelangen können, frei zu sein. [14]

Im Zentrum für Individual- und Sozialtherapie (ZIST) im oberbayerischen Penzberg hat der Arzt und Psychotherapeut Wolf Büntig seine Therapie auf die Unterscheidung von Wesen und Charakter gegründet. „Die Art und Weise, in der wir alles streng unter Kontrolle halten, um normal zu erscheinen, nennen wir Charakter […] Während unser Wesen bestimmt, wer wir im Prinzip – das heißt von Anbeginn – sind, definiert unser Charakter, wer wir unter dem Einfluss der Welt zu sein glauben.“ [15] Weil die gewohnten Schutzmechanismen des Charakters wesentliche Erfahrungen verhindern, kommt es in der Therapie darauf an, eine andere Art des In-der-Welt-Seins auszuprobieren.

Wie kommen wir zu der Gewissheit, liebenswert zu sein – trotz der Schwächen und Fehler, die wir haben? Was führt aus einem verkehrten und vergeblichen Streben heraus? Die biblischen Überlieferungen „betonen, dass es  – bei allem persönlichen Involviertsein – ein weithin unverfügbares Geschehen ist, wenn Menschen umkehren, wenn sich eine grundlegende Wende vollzieht – wie beim Apostel Paulus – und das Selbst und die Welt mit ganz anderen Augen wahrgenommen und erkannt werden können.“ [16]

Was wäre, wenn die Romanfigur Stiller ebenso wie Paulus die „Gnade“ erfahren würde? Zwischen Ich und Ich würde die Gnade Wirklichkeit. In einer Situation, in der er sonst darauf aus wäre, andere dazu zu bringen, ihn zu mögen, würde sich das Gefühl ausbreiten, richtig zu sein, und das ohne erkennbaren Grund, ohne dafür etwas geleistet zu haben. Die Blicke der anderen lösten keine Unruhe mehr aus. Gnade heißt: Mich sieht einer an, obwohl ich unansehnlich bin; „wir sind, weil wir angesehen sind von Augen, die uns ins Leben ziehen“, formuliert Steffensky. [17] Es entsteht ein innerer und äußerer Raum, in dem man wie selbstverständlich leben, auf Menschen zugehen und Entscheidungen treffen kann. Gesamter Vortrag mit Reflexionsfragen…

Moment des Nicht-Verfügens

Hartmut Rosa, Professor für Soziologie an der Uni Jena, macht mit seiner Forschung zu gelingendem Leben darauf aufmerksam, dass Glückserfahrungen wesentlich in Momenten des Nicht-Verfügens stattfinden. Wir haben diese Ereignisse nicht im Griff, wir werden ergriffen und bleiben nur „Zeugen“. Ich hatte zu Beginn aus der Tageszeitung über ein Chorprojekt und über einen ehemaligen BVB-Spieler berichtet. Hartmut Rosa würde sagen, dass der Zauber solcher Erfahrungen in der Unverfügbarkeit begründet ist. Die Chorsängerinnen sind leiblich berührt oder bewegt und was dann erklingt, ist in gewisser Weise unverfügbar. Der Fußballspieler, der inzwischen bei einem anderen Verein spielt, wird auf gegnerischem Platz minutenlang gefeiert. Normalerweise gibt es ein Pfeifkonzert. Beide Ereignisse haben berührt und bewegt. Für den Soziologen ist alles menschliche Handeln von der Sehnsucht geleitet, Resonanz zu erfahren. Wir möchten uns als lebendig erfahren, in dem wir uns berühren lassen und in Kontakt treten. Und das, so Rosa, passiert immer weniger, wenn wir unsere „Weltreichweiten“ ausdehnen und alles planend in den Griff kriegen wollen. Der Franziskanerpater Richard Rohr aus Albuquerque/USA sieht die Aufgabe der Religion im Fördern von Erfahrungen mit dem „Wahren Selbst“. Er kann das drastisch zuspitzen:

Der einzige und alleinige Zweck von Religion besteht darin, dich zu einer regelmäßigen Erfahrung dieses Wahren Selbst anzuleiten. Jedes Sakrament, jede Bibel, jeder Gottesdienst, jedes Lied, jeder kirchliche Dienst und jede Zeremonie oder Liturgie habe nur einen einzigen Zweck: dir zu erlauben, dein Wahres Selbst zu erleben […] Wenn dieses Ziel verfehlt wird, ist alle Religion Schrott. [18]

Das klingt sehr nach einer neuen Gewissensstimme, die meine durchschnittliche und fragmentarisch bleibende Arbeit als unzureichend finden könnte. Dagegen will ich festhalten: Auch mein Charakter, mein Ego, mein falsches Selbst haben ihre Existenzberechtigung. Ich habe die Arbeitsweise des Psychotherapeuten Hunter Beaumont, ebenfalls Amerikaner und einige Jahre Gastprofessor für Tiefenpsychologe in München, als sehr wohltuend erlebt. Im Vorwort zu seinem Buch „Auf die Seele schauen.“ beschreibt er eindrücklich, was seine Art der Therapie grundlegend geprägt hat.

Eine Frau von über 70 Jahren kam zu mir und bat um Hilfe, den Tod ihres Mannes zu verarbeiten, mit dem sie 45 Jahre verheiratet war. Ich war voll von Überzeugungen und Ideen, was sie falsch macht und wie sie es `richtig´ zu machen hat – ich, der mit 35 Jahren noch nie wirklich getrauert hatte. Die Frau war sehr geduldig mit mir, sie mochte mich auch. Nach und nach fing ich an, wirklich mitzuspüren was es innerlich bedeutet, einen Lebensgefährten nach 45 gemeinsamen Jahren zu verlieren und jetzt alleine auf den eigenen Tod hin zu leben.“ Sie sagte, ich müsse nichts tun.“ Es würde sehr helfen, wenn ich präsent sein und mit einem offenen Herzen versuchen könne, zu verstehen, wie es ihr geht – ohne etwas dagegen zu unternehmen. Sie sagte, sie sei zuversichtlich, dass ihr Herz den Weg finden werde, sie brauche nur Beistand. [19]

Ich lade Sie zu einem Experiment ein: Lenken Sie für ein kurze Zeit Ihre Aufmerksamkeit auf Ihr Inneres.

  • Versuchen Sie, sich an ein nicht alltägliches Gefühl von Lebendigkeit zu erinnern, ein Lebensgefühl, das wie ein beglückendes Geschenk sie überraschte, vielleicht ein sogenanntes Gipfelerlebnis.[22]
  • Lassen Sie es nochmals vor ihrem inneren Auge ablaufen.
  • Konzentrieren Sie sich jetzt auf das Körpergefühl, das Sie während dieses Erlebnisses hatten. Was spüren Sie? Welche Qualität hat dieses Gefühl? Welchem Lebensstil würde diese Qualität entsprechen?
  • Wenn dieser Lebensstil ein wichtiger Teil Ihres Lebens wäre, was würde das bedeuten für die Art und Weise, in der Sie als SeelsorgerIn an ihrem Ort arbeiten?

Gefängnisseelsorge muss sich nicht nützlich machen

Ich stelle mir die Seelsorge als einen Raum der Liebe vor, eine Liebe, die an keine Resultate interessiert ist. So gesehen muss Gefängnisseelsorge sich nicht nützlich machen oder ihre Nützlichkeit theoretisch untermauern. Durch einfaches Nicht-Tun entsteht ein Raum, in dem Schwächen und Stärken, Ängste und Hoffnungen enthüllt werden können. Seelsorgerinnen und Seelsorger haben nur ihr Mitfühlen, Mitdenken, ihr achtsames Dasein anzubieten. Sie sind so etwas wie gute Gastgeber. Nichts wird aufgedrängt. Der Gewinn für unsere Gesprächspartner besteht darin zu erfahren, wo sie jetzt stehen. Auch wenn sich nichts ändert, die immer gleiche Klage oder Mutlosigkeit geschildert wird, es ist der einzige Ort, an dem ein Wandel stattfinden kann.

Alles was jetzt geschieht, ist gelingendes Leben, Leben in Fülle. Das Herz findet schon den Weg. Nicht „Genieße den Augenblick“, sondern „Lass diesen Augenblick in seinem Sosein zu“. Gefangene neigen dazu, diese Bewusstheit zu vermeiden, Sie sprechen lieber davon, was sich verändern muss und wer sie gerne sein wollen. Oder sie quälen sich wie Paulus mit Selbstvorwürfen. Der Buchtitel „Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben“ [20] will andeuten, dass wir Erinnerungen an eine schwierige Kindheit als das ansehen können, was sie sind, nämlich als eine Art von „Nach-Denken“.

Im Verlaufe dieses Nachdenkens werden die negativen Erfahrungen noch einmal gegenwärtig. Auch die gelernten Abwehrmechanismen, mit denen wir verdrängt oder umgedeutet haben, werden uns bewusst.  Eine Schuld, eine Verstrickung oder ein Problem kann an den Ort ihres Ursprungs zurückgelassen werden. Sie bekommen ihren angemessenen Platz. „Das habe ich erlebt, das habe ich getan.“ Die eigenen Lebensmuster, auch die gewohnten Narrative des Schweren werden in bestimmter Weise gewürdigt und bekommen einen „Ankerplatz“ im Bewusstsein. Danach können wir „an Land gehen“ und unsere Energie lenken auf das, was heute ansteht. „Make today count“ [21]

 


[1] Vortrag auf der ökumenischen Konferenz der Gefängnisseelsorge NRW am 11. Februar 2020 in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“, Mülheim an der Ruhr.
[2] Steffensky, Fulbert, Fassen, was nicht zu fassen ist.  www.ev-akademie-boll.de › 02_Online-Dokumente
[3] Münstersche Zeitung vom 3.2.2020.
[4] vgl. Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, Frankfurt 1991.
[5] vgl. Jüngel, Eberhard, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, Tübingen 1998.
[6] Steffensky, Fulbert, aaO.
[7] De Botton, Alain, Religion für Atheisten. Frankfurt a.M. 2013, S. 19.
[8]  https://www.theschooloflife.com/berlin/blog/was-ist-wahr-an-religion/
[9] aaO. S. 301. De Botton hat weltweit „Schulen des Lebens“ gegründet. Deutsche Standorte sind Hamburg, Berlin und München. www.theschooloffife.com: “The School of Life is a global organisation helping people lead more fulfilled live”.
[10] https://www1.wdr.de/kultur/buecher/habermas-geschichte-der-philosophie-106.html. Zum Nachhören: https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-das-philosophische-radio/audio-vereinbar—glauben-und-wissen-100.html.
[11] Stollberg, Dieter, Mein Auftrag – Deine Freiheit, 1972 S. 31.  Als Kennzeichnung seiner Position nannte er: „…ihr Mut zum Anspruch auf Diesseitsrelevanz des Evangeliums, ihre Konfliktträchtigkeit, ihre Tendenz zur Konkretion, ihr kommunikativer (Wort-) Charakter, ihre Tendenz zur Befreiung und zur Freiheit… (Seelsorge in der Offensive, in: Wenn Gott menschlich wäre… Stuttgart 1978, S. 102f.
[12] Grün, Anselm, Paulus und die Erfahrung des Christlichen, Stuttgart 2008, S. 86.
[13] Frisch, Max, Stiller, Berlin 1996, S. 242.
[14] ebda. Hervorhebung von mir.
[15] https://www.zist.de/de/veroeffentlichung/wesen-und-charakter „Wie waren wir als Kinder? Wir waren Ausdruck unseres Wesens. Wir waren zunächst einmal einfach da, sodass wir dem Kasperl, der fragte, „Kinder, seid ihr alle da?“, eindeutig zuschreien konnten: „Jaah!“ Wir waren offen, wir waren voller Interesse, ganz Wahrnehmung, waren ängstlich und mutig, stark und verletzlich. Wir wussten, was stimmte – solange wir noch nicht auf richtig und falsch festgelegt waren – und sagten unsere Wahrheit.“
[16] Karle, Isolde, Das Streben nach Glück, in: Heinrich Bedform-Strohm (Hg.) Glück-Seligkeit. Theologische Rede vom Glück in einer bedrohten Welt, Neukirchen-Vluyn 2011, S. 51ff.
[17] Steffensky, Fulbert, aaO.
[18] Rohr, Richard, Ganz da. Einfach und kontemplativ leben, München 2018, S. 95.
[19] Beaumont, Hunter, Auf die Seele schauen. Spirituelle Psychotherapie, München 2008, S. 8.
[20] Furman, Ben, Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben, Dortmund 2019.
[21] Motto der „Psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb“.
[22] Der Mitbegründer der Humanistischen Psychologie Abraham Maslow konnte feststellen, dass psychisch gesunde Menschen mystische Erfahrungen, sogenannte Gipfelerlebnisse, hatten. siehe Maslow, Abraham H., Jeder Mensch ist ein Mystiker. Impulse für die seelische Ganzwerdung, Wuppertal 2014.

 

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