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Neuordnung des Strafrechts mit sanfter Vernunft

17. Mai 2019

Im internationalen Vergleich hat Deutschland ein relativ hohes zivilisatorisches Niveau im Umgang mit dem Thema Kriminalität erreicht. Das sollte jedoch nicht zu einer selbstzufriedenen oder gar selbstgerechten Haltung von Justiz, Staat und Gesellschaft verführen. Dieses erreichte Niveau muss vielmehr immer wieder neu erkämpft und auch als Verpflichtung begriffen werden. Als Verpflichtung, von ihm ausgehend weitere humanitäre Maßstäbe zu setzen, und so unseren (verglichen mit vielen Teilen der Welt) „Luxus“ sinnvoll zu nutzen und nicht sinnlos zu verschwenden.

Es gilt Wege zu finden, den Schaden, den wir Menschen uns gegenseitig zufügen, möglichst zu begrenzen. Unser derzeitiges strafrechtliches System, das einige Milliarden Euro pro Jahr verschlingt, genügt diesem Anspruch bei weitem nicht. Allein die Zahl der registrierten Gewaltstraftaten liegt bei fast 200.000 jährlich, und vom Entzug von Freiheit zur Strafe in totalen Institutionen („Gefängnis“) sind nach wie vor allein in Deutschland Hunderttausende (Inhaftierte und ihre Angehörigen) jedes Jahr betroffen.

Verantwortung statt Schuld und Vergeltung

Die Frage, ob und wie lange jemand „hinter Gitter“ kommt, ist nach wie vor eine Frage von Schuld und Vergeltung. Dass der Vergeltungsgedanke dann während des Vollzugs der Freiheitsstrafe keine Rolle mehr spielen sollte, kann darüber nicht hinwegtäuschen. Dem Gefangenen soll ein Übel zugefügt werden, indem er eingesperrt wird, und aus diesem Übel etwas Positives zu generieren, kann, zumindest grundsätzlich, nicht funktionieren. Hinzu kommt, dass Schuld und Vergeltung, ein religiös-ökonomisches Prinzip, auf einer sozialen Ebene nicht funktioniert. Das würde es nur dann, wenn jemand, der eine Freiheitsstrafe verbüßt hat, um die Schuld, die er durch ein Straftat auf sich geladen hat, zu verbüßen, danach so angesehen und behandelt würde, als hätte er die Tat nicht begangen. Das Gegenteil ist der Fall. Der Makel insbesondere einer Gefängnisstrafe ist oft noch größer als der Makel der Tat selbst. Um das Konzept der strafrechtlichen Schuld zu retten, wird oft der Einwand vorgebracht, es diene auch der Begrenzung des staatlichen Eingriffs gegenüber dem Bürger. Dem ist zuzustimmen, jedoch sollte die Schuld vor allem eine Obergrenze für belastende staatliche Eingriffe festlegen, nicht Mindestgrenze oder Inhalt dieser Eingriffe.

Der Staat und staatliches Handeln sind nicht nur Ausdruck, sondern immer auch Vorbild für die BürgerInnen. Ein Staat, der rächt (Vergeltung ist eine reglementierte Form von Rache), zeigt seinen BürgerInnen: Rächen kann Sinn ergeben, Rächen kann erlaubt sein, Rächen kann gut sein. Damit steigt auch die Vergeltungsneigung der BürgerInnen untereinander. Und wenn der Staat erwachsene Menschen bestraft, sogar einsperrt, um sie zu bestrafen, dann werden viele das bei ihren Kindern ebenso tun. Das Vorbild des Staates ist insofern unsouverän, unvernünftig, schlecht. Schädlich.

Dem Vergeltungsgedanken liegt ein weiterer Denkfehler zugrunde. Wenn es so wäre, wie es staatliches Strafen signalisiert, dass auf eine Schädigung sinnvoll reagiert werden kann, indem man den Schädiger schädigt, dann müsste sich dieser ja wiederum für seine Schädigung rächen. So entsteht ein ewiger Kreislauf der Gewalt, und keine Heilung. Etwas grundsätzlich anderes, als jemandem die Schuld für seine Taten zuzusprechen, ist es, ihn in Verantwortung für das zu nehmen, was er getan hat. Der Staat kann und sollte, auch mit Zwang, Schädiger dazu bringen, den Schaden wieder gut zu machen, soweit es eben geht. Er sollte Strukturen schaffen, die echte Reue ermöglichen und fördern. Er sollte sich um die Geschädigten so kümmern, dass das, was geheilt werden kann, auch geheilt wird. Was wir anstelle der Schuld nicht brauchen, ist ein „pre-crime“- Denken mit der Stigmatisierung, Ausgrenzung oder gar Bestrafung von Menschen, die keinem einen Schaden zugefügt haben. Ein Staat, der so agiert, wird selbst zum Schädiger.

Langfristiges, komplexes, selbst reflexives Denken und Handeln in der Justizpolitik

Jede einzelne Straftat hat individuelle und soziale Anteile, und jede Straftat muss für Staat und Gesellschaft Anlass sein, auch das eigene Funktionieren und Handeln zu hinterfragen. Mit immensem Aufwand wird am straffälligen Individuum „herumgedoktert“, eine Reflexion der sozialen Ursachen findet hingegen, zumindest in der Justizpolitik, kaum statt.

Weg vom „Gießkannenprinzip“ bei den Rechtsfolgen einer Straftat

Insbesondere mit und im Rahmen einer Maßnahme, der Freiheitsstrafe, soll alles mögliche erreicht werden: Vergeltung, Resozialisierung, Sicherung, usw. Innerhalb der Haft wird dann versucht, möglichst individuell mit den Inhaftierten zu arbeiten, wobei dies angesichts der äußeren Rahmenbedingungen in vielen Fällen letztlich Augenwischerei bleibt und bleiben muss. Ein Arzt etwa, der seine Ehefrau ermordet hat und dafür eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt, muss nicht resozialisiert werden. Er wird durch die lange Haft de-sozialisiert. Ein Drogensüchtiger, der wegen Beschaffungskriminalität in Haft kommt, gerät dort in ein noch kriminogeneres Umfeld als draußen. Er ist nun fast ausschließlich mit anderen Straffälligen und vielen Drogenkonsumenten und Händlern zusammen, in einem druck- und stressbelasteten Umfeld, wie es notgedrungen entstehen muss, wenn Hunderte meist junger Männer auf engstem Raum über Monate und Jahre zusammen eingesperrt werden. Und wenn er im Gefängnis einen fehlenden Schul- oder Berufsabschluss nachholt, dann trägt er dennoch nach seiner Entlassung den Makel eines Gefängnisaufenthaltes mit sich herum, den er nie wieder aus seiner Biographie löschen kann. Auf dem Arbeitsmarkt hat er so kaum Chancen. So reißen wir mit „dem Hintern wieder ein, was wir mühsam mit den Händen aufgebaut haben.“ Zu behaupten, im Kontext des geschlossenen Strafvollzuges könnten Menschen grundsätzlich resozialisiert werden, wäre realitätsferne Sozialromantik.

Die Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen kann nur lauten, dass wir eine stärkere Differenzierung strafender Maßnahmen brauchen. Mit ein und derselben Maßnahme vergelten und resozialisieren zu wollen, kann nur zufällig gelingen, nicht aber systematisch. Zudem brauchen wir individuellere Möglichkeiten, auf schädigendes Verhalten Einzelner zu reagieren. Beim einen mag es Sinn machen, ihn aus einem kriminogenen Umfeld herauszuholen, beim anderen kann es genau kontraproduktiv sein, ihn aus seinem gewohnten Umfeld gewaltsam zu lösen.

Gerechtigkeit darf sich nicht länger den einfachsten Weg wählen

Strafrecht kann nur auf der Grundlage und in den Grenzen von dem, was sich grob als Gerechtigkeit bezeichnen lässt, legitim sein. Diese Gerechtigkeit allerdings tendiert dazu, wie jede menschliche und soziale Energie, sich den einfachsten Weg zu wählen. Je stärker sie dies allerdings tut, desto stärker verkehrt sie sich genau in ihr Gegenteil. Sie dient dann nicht mehr der Gesellschaft, sondern schadet ihr. Wer etwas über das Internet bestellt, ohne es bezahlen zu wollen, kann sich wegen Betrugs strafbar machen; wer eine Flasche Schnaps im Supermarkt klaut, wegen Diebstahls; wer jemanden körperlich schädigt, wegen Körperverletzung; wer den Tod eines anderen Menschen verursacht, wegen fahrlässiger Tötung, Totschlag oder Mordes.

Je mehr und je stärkere Interessen allerdings mit Handlungen verbunden sind, die gegen die gleichen Werte verstoßen, die durch unser Strafrecht geschützt werden sollen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, sich strafbar zu machen. Das gilt etwa für Waffenexporte in Unrechtsstaaten, die Abgasmanipulationen großer Automobilhersteller oder die hemmungslose Selbstbereicherung von Bankern systemrelevanter Banken, die dann mit Steuergeldern gerettet werden müssen. Werte und Normen werden nicht mehr verbindlich, sie stehen nicht mehr über, sondern unter der Macht, wenn sie letztlich dem Grundsatz der Opportunität unterliegen.

Kein Entzug von Freiheit in totalen Institutionen als Form von Strafe

Überhaupt auf die Idee kommen, Hunderte von Menschen zusammen in einer totalen, geschlossenen Institution einzusperren, kann man nur, wenn man sie möglichst kostengünstig verwalten will. Die Kosteneinsparung ist jedoch nur eine kurzfristige und vordergründige. Ganz zu schweigen von den Effekten dieses Freiheitsentzuges auf die Kriminalitätsentwicklung der Insassen. Die Maßnahme des „Einsperrens“ und „Wegsperrens“ an sich ist ein Zerstören von positiven Ressourcen. Im psychologischen Bereich (Stichwort „Selbstwertgefühl“) und im körperlichen Bereich. Auch im sozialen Bereich werden wichtige Ressourcen zerstört (Kontakte zur Außenwelt werden zerstört bzw. erschwert – Kontakte bestehen im Wesentlichen zu anderen Straftätern in Haft). Es kann einfach keinen Sinn ergeben, Menschen in die Gesellschaft integrieren zu wollen und sie auf ein verantwortungsvolles Leben in Freiheit vorbereiten zu wollen, indem man sie aus dieser Gesellschaft herausnimmt und sie für Monate und Jahre einem völlig fremdbestimmtem Leben in Haft unterwirft. Ein Leben, von dem wir alle wissen, dass es mit dem Leben in Freiheit nun wirklich nichts zu tun hat.

Manche Inhaftiere kommen erst im Gefängnis so richtig auf „falsche“ Ideen oder geraten in „falsche“ Kreise. Bei anderen verfestigen sich normabweichende Verhaltensmuster. Das nimmt kaum Wunder, führt man sich die Tatsache vor Augen, dass Hunderte von Rechtsbrechern zum Teil über Jahre hinweg auf engstem Raum zusammen eingesperrt sind und trotz aller Interventionen des Gefängnispersonals die meiste Zeit miteinander verbringen. Die Gruppe der Gleichgesinnten findet sich so innerhalb der Inhaftierten, nicht zwischen Inhaftierten und Gefängnispersonal. Und in der Gruppe der Inhaftierten gelten eigene Normen und Werte, eine eigene Kultur, die von den Bediensteten als Subkultur bezeichnet wird, und in der nicht selten der Gesetzesbruch zur Norm wird.

Der Abschreckungsgedanke spielt gerade bei schweren Gewalt- und Sexualstraftaten kaum eine Rolle, weil diese aus sehr starken Affekten und Emotionen heraus begangen werden. In anderen Fällen denken die Täter, sie werden ohnehin nicht erwischt. Auch die Sicherheit ist nur sehr oberflächlich und kurzfristig erhöht, wenn Inhaftierte durch die Haft weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden und somit die Gefahr langfristig eher vergrößert wird, dass sie sich mit der Gesellschaft und ihren Werten nicht versöhnen. Freiheitsentzug als Form von Strafe in geschlossenen, totalen Institutionen schadet damit nicht nur den Inhaftierten, sondern der Gesellschaft allgemein.

Textauszug aus: Schriftenreihe der Strafverteidigervereinigung, Band 42, S. 51-64.

 

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