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Mittler zwischen abgeschotteter Innen und anderer Welt draußen

23. April 2022

Die kategoriale Seelsorge steht seit jeher in einem besonderen Spannungsverhältnis, das durch die Corona-Pandemie noch einmal besonders hervorgetreten ist. Die Seelsorge in Gefängnissen, Krankenhäusern, Hochschulen und vielen anderen Orten ist Teil eines Systems ohne jedoch selbst zu diesem System zu gehören. Hierdurch ergeben sich Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und Begleitung, die an anderen Orten nicht in gleicher Weise möglich wären.

Mit Blick auf die vielfältigen Kontaktbeschränkungen der zurückliegenden zwei Jahre waren die Seelsorgenden vor allem in Gefängnissen und Krankenhäusern diejenigen, die verlässlich als soziale Ansprechpartner für Gefangene oder Patienten zur Verfügung stehen. Nicht selten waren es die Seelsorgenden, die als Mittler zwischen einem abgeschotteten Innen und der anderen Welt draußen vermittelt haben. Gleichzeitig bestand und besteht die besondere Herausforderung darin, eben nicht nur sozialer Mittler, sondern gleichzeitig Bote einer anderen, einer frohen Botschaft zu sein.

Zeichnung: Seelos, Betende Hände im Freistundenhof der JVA Butzbach.

Ist Seelsorge systemrelavant?

Während viele Kirchengemeinden bedingt durch Corona-Auflagen fast vollständig den Betrieb einstellen mussten, konnten kategoriale Seelsorger ihre Botschaft zum Teil mit Anpassungen dennoch verkünden. Nicht selten wurden sie dabei als systemrelevant betrachtet. Kategoriale Seelsorge wird dabei von Seiten des Systems (egal ob Krankenhaus, Universität oder Gefängnis) eine hohe Kompetenz in spirituellen und sozialen Fragen zugestanden. Gleichzeitig wird jedoch auch erwartet, dass sich die Seelsorgenden ebenso professionell in einem System bewegen, das im eigentlichen Sinne nicht ihr System ist. In der kategorialen Seelsorge treffen wir auf Menschen, die häufig nicht oder nicht mehr in den Gemeinden vor Ort gebunden sind. Um sie tatsächlich zu erreichen, braucht es, neben finanziellen und materiellen Ressourcen, vor allem Personal, das an den jeweiligen Orten präsent und damit als Vertreter von Kirche erfahrbar sein kann. Gleichzeitig müssen diese Seelsorgenden im doppelten Sinne hochprofessionell sein.

Kompetenzen im System

Um auf die Sinnfragen der Menschen eine Antwort geben zu können, braucht es eine eigene spirituelle Verortung. Darüber hinaus ist eine Sprachkompetenz erforderlich, die es ermöglicht, das eigene theologische Wissen und die spirituelle Verortung in eine verstehbare Sprache zu übersetzen. Ebenso müssen Seelsorgende Profis für Ihr System, sei es nun das Gefängnis, das Krankenhaus oder die Universität, sein. Sie bewegen sich im System und müssen auch für das System ansprechbar und verständlich sein. Ein guter Gefängnisseelsorger braucht eben nicht nur seelsorgliche Kompetenzen, er benötigt gleichzeitig Kompetenzen im System Knast. Wenn Kirche gesellschaftlich relevant bleiben will, braucht es viel gutes Personal in den unterschiedlichsten kategorialen Einsatzfeldern. Denn dort können wir noch Menschen erreichen, die wir in den Gemeinden schon längst nicht mehr ansprechen können.

Christoph Tobias Brandt op, Universitätsmedizin Mainz

Ver-rückte Zeit

Die Zeit zwischen Gefangenschaft und Freiheit verbringen manche Gefangene im offenen Vollzug. Wenn ein Gefangener im offenen Vollzug die Stufe “T12” erreicht hat, kann er sich glücklich schätzen, denn das bedeutet täglich 12 Stunden Freiheit. Als ich im März 2020 diese Stufe erreicht hatte, kam plötzlich der Anruf aus der Anstalt: “Es ist ihnen bis auf Weiteres untersagt, die Anstalt zu betreten. Corona. Pandemie.“. Plötzlich war ich von der Haft freigestellt. Ich war frei – zumindest vorerst. Diesen Satz musste ich mir erst einmal klarmachen. Als Gefangener ist es verboten, das Gefängnis zu betreten! Als “Eingeschlossener” war ich ausgeschlossen. Ver-rückt!

Draußen alles Offener Vollzug

Zugleich ist ein ganzes Land, ja die ganze Welt, in eine Art “offener Vollzug” gestürzt. Freiheitsrechte wurden eingeschränkt, die Möglichkeiten, sich frei zu bewegen oder zu reisen, waren plötzlich genommen. Was für mich Freiheit bedeutete, war für Menschen in Freiheit plötzlich eine Einschränkung nie gekannten Ausmaßes. Praktisch über Nacht haben sich alle Vorzeichen geändert: Leergeräumte Ladenregale, Kampf um die letzte Rolle Toilettenpapier, Social Distancing und vieles mehr hat den Alltag der Menschen geprägt, ihnen die Freiheit genommen. Eine ver-rückte Zeit. Menschen in Pflegeheimen, Altersheimen und Krankenhäusern waren auf einmal eingesperrt – „wie im Knast”. Die Arbeitswelt hat sich verändert: Großraumbüros standen leer, Geschäfte und Gastronomie waren geschlossen. Reisen selbst im eigenen Land war kaum mehr möglich. Auf den Intensivstationen sind Menschen einsam gestorben – ohne ihre Angehörigen noch einmal sehen zu können. Weihnachten und Ostern mussten viele ohne Gottesdienst und ihre Lieben feiern. Und ich war frei. So frei wie seit vielen Jahren nicht mehr! Ver-rückt!

Was kennzeichnet eigentlich meine Freiheit, habe ich mich gefragt. Ist es die Möglichkeit zu reisen, sich frei zu bewegen, Menschen zu treffen? Ist es die Fähigkeit, alles sagen zu dürfen? Ist es der unbegrenzte Konsum? Freiheit und Gefangenschaft sind durch die Corona-Pandemie auf einmal durcheinandergewirbelt, ver-rückt worden. Für mich persönlich war der Lockdown das Tor zur Freiheit, während andere dies als ein „eingesperrt werden” empfunden haben. Es war ein heilsamer Perspektivwechsel, um zu begreifen, zu lernen, um sensibel zu werden, was die Freiheit eines jeden ausmacht. Im Gefängnis genauso wie in der Gesellschaft: Freiheit ist stärker als Gefängnismauern. Freiheit ist stärker als jeder Lockdown.

G.Z., Ein Entlassener

Quelle: Denen, die im Elend leben – seine Liebe. Eindrücke aus dem Gefängnis, Band 5
Herausgeber: Georg-D. Menke

 

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