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Gibt es so etwas wie Sie als Mensch auch draußen?

1. Mai 2019

„Herr Herold, kommen Sie mir jetzt bloß nicht mit Ihrem Mitleid!“ sagte der Gefangene nach einem längeren Gespräch in meinem Büro. „Sie brauchen mich nicht bemitleiden und sagen ‚och der arme Junge’…!“ fuhr er fort. Das irritierte mich und machte mich zunächst sprachlos, denn das, was er in den knapp 45 Minuten zuvor erzählte, war ein tränenreicher Kurzabriss seines bisherigen Lebensweges und der war schlichtweg erschreckend und durchaus bemitleidenswert!

Konkret erzählte er von massiven Gewalterfahrungen, die er als Kind durch seinen Stiefvater erfahren hatte, der immer wieder seinen Frust an ihm ausließ. Seine Mutter glaubte ihm nicht bzw. wollte das Offensichtliche nicht glauben und stand fest an der Seite ihres neuen Lebenspartners. Doch nicht nur das, sie gab auch dem Kind die Schuld an den immer wiederkehrenden Gewaltexzessen. Er war also den Launen des Stiefvaters schutzlos ausgeliefert. So folgten zwangsläufig wechselnde Aufenthalte in Pflege- und Erziehungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche, in sonderpädagogischen Wohnprojekten sowie in Kinder- und Jugendpsychiatrien. Bereits im Alter von neun Jahren machte er seine ersten Erfahrungen mit Cannabis und Alkohol. Mit 13 Jahren kamen diverse chemische Drogen hinzu, später dann Kokain und letztendlich Heroin. Er hatte bis zu seiner Inhaftierung mit 18 Jahren fast jedes Rauschmittel exzessiv konsumiert. Faktisch erlebte er die letzten Jahre nur noch im Rausch, die Wirklichkeit wurde ihm unerträglich.

Die Kirche der Jugendanstalt Raßnitz

Maske der Scham macht angreifbar

Aufgrund der Haft musste er von heute auf morgen ohne Drogen leben. Still und allein in der Zelle holte ihn das Erlebte ein. Dort konnte er um sich und seine Situation weinen. Sobald aber die Zellentür aufging und er hinaustrat war er ein fröhlicher, sympathischer und bei allen beliebter Jugendlicher. Eine Kirche hatte er noch nie von innen gesehen. Vor dem ersten Seelsorgegespräch stand er auch etwas zögerlich und unsicher vor der Anstaltskirche. Doch das Vertrauen wuchs von Gespräch zu Gespräch. Auch die Gottesdienste wurden ihm verständlicher und vertrauter. So konnte er sich in diesem einen besonderen Gespräch offenbaren und über das sprechen, was er bisher in seinem tiefsten Inneren versteckt hielt. Allerdings verstand er Mitleid angesichts seiner traurigen Geschichte als eine Art joviales Geschehen von einem, dem es besser erging.

Als Seelsorger im Gefängnis werde ich ständig mit diesen Erzählungen konfrontiert – mit Biografien, die oftmals aus Gewalt-, Missbrauchs- und Vernachlässigungserfahrungen bestehen. Es sind schlichtweg Opfererfahrungen. Aber auch die jeweiligen kriminellen Delikte werden regelmäßig thematisiert, denn so mancher Gefangene kann mit seinen Taten nicht einfach weiterleben. Diese Tätererzählungen sind oftmals genauso schambehaftet, da sich der Erzähler seiner eigenen Verantwortung stellen muss.

Es ist häufig die Maske der Scham (nach Leo Wurmser), die uns davon abhält über jene Dinge zu sprechen, die unser tiefstes Sein berühren und prägen. Über diese Dinge zu sprechen macht uns angreifbar, ja wehrlos. Sie schützt uns damit vor möglichen Verletzungen durch den Anderen. Gleichzeitig verhindert die Maske der Scham aber auch, dass der Andere mich als die Person anerkennt, die ich bin – mit meinen Ängsten und Hoffnungen. In der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ steht zu Beginn:

Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.

Als Seelsorger im Gefängnis erfahre ich immer wieder einen Vertrauensvorschuss jener Menschen, die ich in dieser schwierigen Zeit begleite. Dafür ist das Seelsorgsgeheimnis von immenser Bedeutung, denn der Seelsorger ist die einzige Person im Gefängnisapparat, die keine Auskunftspflicht gegenüber anderen Stellen bzw. Institutionen hat. Die Gefangenen erleben die Seelsorge als einen Ort der Freiheit hinter Gittern, wo ihre Freude und Hoffnung aber auch ihre Trauer und Ängste Platz haben und artikuliert werden können. Das beinhaltet für mich eine Begegnung mit dem Anderen auf Augenhöhe.

Das Haus des offenen Vollzuges der Jugendanstalt Rassnitz

Mitleid verändert den Standort

Mitleid von oben herab nimmt das Erzählte nicht wahr, nimmt den Menschen nicht wahr und manifestiert es dadurch beim Leidtragenden. Mitleid verstanden als compassion (Johann Baptist Metz) ist ver-rückt, denn es verändert den Standort. Es nimmt die Position des Leidenen ein, es setzt sich der Hilflosigkeit des Anderen aus. So schreibt Metz:

Jesu erster Blick galt nicht der Sünde der anderen, sondern dem Leid der anderen. Die Sünde war ihm vor allem Verweigerung der Teilnahme am Leid der anderen, war ihm Weigerung, über den Horizont der eigenen Leidensgeschichte hinauszudenken …

Für mich als Gefängnisseelsorger heißt das, nicht bei dem Leid des Täters stehen zu bleiben, sondern auch immer wieder die Perspektive der Opfer einzunehmen, gerade im Rahmen der Delikterzählungen. In den Gottesdiensten versuche ich diese Themen mit verschiedenen Formen und Ritualen aufzugreifen und in den Horizont der Heilszusage Gottes zu stellen. Die Gefangenen können sich selbst als mit-leidens-fähig erfahren wenn sie z.B. eigene Fürbitten formulieren, oder Texte des Evangeliums nachvollziehen können. Liturgie wird somit konkret und fordert zur Nachfolge auf.

„Denkt an die Gefangenen, als wäret ihr mitgefangen.“ (Hebr 13,3) ist uns Christen als Auftrag explizit ins Stammbuch geschrieben. Das geschieht in manchen Anstalten bereits u.a. durch Ehrenamtskreise. Allerdings bedarf es einer weiteren Vernetzung der Pfarreien und Gemeinden mit dem Gefängnis als einem Ort (u.a.) der kategorialen Seelsorge. Denn die eigentliche Herausforderung beginnt mit der Haftentlassung. So fragte mich neulich ein Gefangener kurz vor seiner Entlassung: „Gibt es so was wie Sie auch draußen…?“

Markus Herold | Jugendanstalt Raßnitz

Markus Herold ist 1980 in Oranienburg/ Brandenburg geboren. Er arbeitet als Gefängnisseelsorger in der Jugendanstalt (JA) Raßnitz in Sachsen-Anhalt, einer Anstalt des geschlossenen und offenen Vollzugs für männliche Jugendliche und junge Erwachsene sowie für so genannte Jungtäter, die nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt wurden. Der Diplom-Theologe ist verheiratet und Vater dreier Kinder.

 

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