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Ecce Homo. Mich selbst aushalten lernen

10. Mai 2019

Wenn ich die Schriftstelle in Johannes 19, 1-5 lese, dann habe ich sofort ein Bild, eine Situation bei mir in der JVA Ravensburg vor Augen: Es war vor einigen Jahren; ich komme auf eine Abteilung und wundere mich zunächst, warum hier so viel Beamte versammelt sind. Da geht eine Zellentür auf und heraus tritt ein Gefangener mit nacktem aber blutigem Oberkörper. Er hatte sich Arme und Oberkörper mit einer Rasierklinge aufgeschnitten.

Mit gefesselten Händen wurde er so gezeichnet durch ein regelrechtes Spalier von Beamten geführt. Mein erster Gedanke war: Muss das sein, dass er hier von so vielen regelrecht begafft wird? Und in den Augen von einigen Beamten meinte ich zu sehen, dass dies für sie eine willkommene Abwechslung im sonst oft so stupiden Vollzugsalltag war. Ecce homo – das war das erste, was mir damals durch den Kopf ging – seht den Menschen. „Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpur-Gewand an und traten zu ihm und sprachen: ‘Sei gegrüßt, König der Juden!’ und schlugen ihm ins Gesicht. Da ging Pilatus wieder hinaus und sprach zu ihnen: Seht, ich führe ihn heraus zu euch, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde. Jesus kam heraus und trug die Dornenkrone und das Purpur-Gewand. Pilatus sprach zu ihnen: Seht, da der Mensch!

Ich denke, viele SeelsorgerInnen im Strafvollzug kennen ähnliche Ereignisse. Wir neigen dazu, dass uns zu diesem ‚Ecce homo‘ vor allem solche und ähnliche Situationen einfallen: vorgeführte Gefangene, ihrer Würde beraubt und vielleicht sogar zur Schau gestellt. Ich möchte uns alle einladen, diesen Blick zu weiten. Wir begegnen auch Inhaftierten, die unseren Respekt und unsere Achtung verdienen, vor deren aufrechtem Gang in dieser misslichen Situation wir den Hut ziehen. Und es gibt die, die wir als Zumutung empfinden, die mir ständig auf die Pelle rücken, mich immer wieder zu Abgrenzungsgefechten zwingen.

Und dann – Ecce homo – sind da auch KollegenInnen und MitarbeiterInnen: der Anstaltsleiter, die Vollzugsbeamten, PsychologInnen, SozialarbeiterInnen – diejenigen, die mir Schwierigkeiten machen können, mit denen ich mich zoffe, die mir hin und wieder Prügel zwischen die Beine werfen; aber auch die, vor denen ich den Hut ziehe, denen ich hin und wieder sogar sage: „Wissen Sie, manchmal gibt es hier mehr als zwei Seelsorger im Haus.“

Ecce Homo – seht den Menschen – in seinem Gelingen und in seinem Scheitern, bewundernd und erschreckend, „Tremendum et Faszinosum“ zugleich – seit meinem Theologiestudium fordert mich dieses Begriffspaar für das Göttliche heraus. Diese zwei Worte, dieser Ausruf des Pilatus, kann auch eine Einladung sein, den Blick doch auch auf uns selbst zu richten.

Nehmen wir den Spiegel in die Hand? Mich, vor mir selbst und vor Gott in den Blick nehmen – genauso verständig, zärtlich, mit genauso viel Empathie, wie ich den Gefangenen begegne! Habe ich das auch für mich? Mein evangelischer Kollege hat vor kurzem nebenbei einen Satz gesagt, der mir die letzten Wochen nicht aus dem Kopf geht. Er sagte: „Mich selbst aushalten! – Das ist wahrscheinlich die größte Herausforderung unseres Lebens.“ Bin ich mir selbst eine Zumutung? Mir fällt dazu eine Karikatur ein: Ein in die Jahre gekommener Mann steht im Urlaub im Hotel vor dem Spiegel – so wie ihn Gott erschaffen hat. Und wie er sich so anschaut, den gut genährten Bauch, den Körper, dem man die gelebten Jahre ansieht, sagt er nachdenklich zu sich selbst: „Eigentlich wär ich ja gern mal mit jemand anders in den Urlaub gefahren!“

Die Konfrontation mit mir selbst – ich entgehe ihr nicht. Ich kann alles Mögliche austauschen in meinem Leben: Kann mir eine andere Frau oder einen anderen Lebenspartner nehmen, einen anderen Freundeskreis suchen, die Wohnung wechseln, das berufliche Arbeitsfeld austauschen. Und wenn ich das häufig oder immer wieder pflege, dann muss ich mir vielleicht die Frage gefallen lasse, ob ich denn nicht vor mir selbst davonlaufe?

Mich selbst aushalten – 50, 60, 70 Jahre: schon fast 2/3 eines Jahrhunderts. Vor dem Spiegel stehend bzw. stehend vor dem Satz: „Seht da, der Mensch!“ wird mir bewusst, dass Davonlaufen nicht die Lösung ist. Einen anderen Weg bietet uns Carl Rogers, der Begründer der personenzentrierten Therapie, an mit seinem fast schon paradoxen Satz: „Akzeptiere dich, wie du bist – und du fängst an dich zu verändern.“ Was für eine Einladung: Das Hadern führt nicht weiter – nur das, womit ich versöhnt bin, kann ich ändern.

Ecce homo – seht den Menschen: dieser Aufruf ist eine Einladung, mich so zu sehen und mich so sehen zu lassen wie ich bin: so stümperhaft, wie ich mich oft anstelle – theologisch heißt das dann erlösungsbedürftig, aber auch so grandios, wie ich manchmal sein kann – zumindest so grandios erschaffen. Seht den Menschen – sieh mich an Gott: tremendum et fascinosum.

Beim Versuch, mich zu akzeptieren, hilft mir ein Text des persischen Sufi-Mystikers, Gelehrter und einer der bedeutendsten Dichter des Mittelalters mit Namen Dschalāl ad-Dīn Muhammad ar-Rūmī – kurz Rumi genannt – mit dem Titel „Das Gasthaus“: 

„Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus jeden Morgen ein neuer Gast: Freude, Depression und Niedertracht – auch ein kurzer Moment der Achtsamkeit kommt als unverhoffter Besucher. Begrüße und bewirte sie alle! Selbst wenn es eine Schar von Sorgen ist, die gewaltsam Dein Haus seiner Möbel entledigt. Selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll. Vielleicht reinigt er Dich ja für neue Wonnen. Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Bosheit – begegne ihnen lachend an der Tür und lade sie zu dir ein. Sei dankbar für jeden, der kommt, denn alle sind zu Deiner Führung geschickt worden aus einer anderen Welt.“

Meine Schattenseiten einladen: Das Grübeln während einer schlaflosen Nacht – heiß es willkommen! Die Zwänge, mit denen ich mir manchmal selbst im Wege stehe – lade sie ein! Mein Hang zum Perfektionismus, der Gelassenheit und Leichtigkeit erschwert – begegne ihm lachend an der Tür! Meine ewige Suche nach Anerkennung und die Angst nicht zu genügen – behandle sie ehrenvoll! Die Schwermut des frühen Morgens beim Aufstehen – sei dankbar für jeden, der kommt, denn alle sind zu deiner Führung geschickt worden aus einer anderen Welt. Ich soll sie nicht nur willkommen heißen, ich soll sie auch noch bewirten – schlägt dieser Rumi vor.

Die Person, die mir diesen Text nahe gebracht hat, erzählte, das sie manchmal zum Frühstück einen dieser ungebetenen Gäste auf ein Blatt geschrieben neben sich legt und zum Frühstück einlädt. Ob mir das auch gelingt? Ich will es versuchen!

Konrad Widmann | JVA Ravensburg

Ansprache beim Abschluss-Gottesdienst der Studientagung im baden-württembergischen Kloster Reute.

 

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