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Manchmal muss man mit Inhaftierten mittanzen

1. Oktober 2021

Das Treffen der Arbeitsgemeinschaft Jugendvollzug der evangelischen Konferenz im bayrischen Dießen am Ammersee hat ein Thema, das nicht unbedingt auf der Tagesordnung steht: Sexualität (männlicher) Jugendlicher in Haft. Sexualität in den Zwangskontexten stellen ein unerforschtes Terrain dar. Insbesondere fehlen Studien und pädagogische Konzepte, die sich neben der Sexualaufklärung und Gesundheitsberatung mit den Lebenswelten, der sexuellen (Identitäts-)Entwicklung, mit den Interessen und Bedürfnissen sowie mit sexualisierten Missbrauchs- und Gewalterfahrungen junger von Haft und Arrest betroffenen Menschen befassen.

Sexualität bewegt alle und doch ist es ein Tabuthema. In einer angeblich aufgeklärten Welt tut man(n) sich schwer, offen darüber zu sprechen. Besonders hinten den Mauern bei inhaftierten jungen Männern, die von der Pubertät bis zum jungen Erwachsensein in der Entwicklung sind, zeigt sich dies. 10 evangelische und 2 katholische GefängnisselsorgerInnen aus dem Bundesgebiet treffen sich zu einer einwöchigen hybriden Studientagung zu diesem intimen Thema. Sie setzen sich mit dem auseinander, das zu den selten besprochenen und weitgehend aus dem Vollzugsalltag ausgeblendeten gehört. Sexualität hat Auswirkungen auf die gesamte Gefühls- und Lebenswelt, und sei es nur auf den alltäglichen Anspannungstonus. Am direktesten begegnet sie in ihrer devianten Ausprägung bei Sexualstraftätern.

Gesunde sexuelle Identität

Sexualität ist eine Kraft, die verantwortungsbewusst gelebt werden will. Seelsorgende sind als Menschen nicht ausgenommen. Sie erfahren Sexualität, leben sie und haben dazu eine Haltung entwickelt. Sexualität ist sowohl sozial geformt als auch individuell kultiviert. „Sie zeigt sich – je nach Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung und gesellschaftlichem Umfeld – in einer Vielfalt sexueller Lebens- und Ausdrucksformen, die neben- und nacheinander gelebt werden können“, so die Psychologin Hania Weissbach. Sie und Yilmaz Atmaca sind als Referenten von der Berliner MIND prevention zugeschaltet. Die Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention – kurz: MIND prevention – wurde 2017 durch Ahmad und Beatrice Mansour gegründet. Im Zentrum der Arbeit steht die Prävention gegen muslimischen Extremismus und Antisemitismus sowie für Gleichberechtigung.

Rollenbilder in Kulturkreisen

Einen besonderen Blick werfen die GefängnisseelsorgerInnen auf junge Männer mit muslimischen Hintergrund und auf die Rollenbilder in ihren Kulturkreisen. Wie damit umgehen, wenn Sexualität zum Thema wird, vorsichtig oder offen, durch die Blume oder verschlüsselt? Und welche Rolle spielen Übertragung und Gegenübertragung, wenn Sexualität explizit und implizit in der Seelsorge zur Sprache kommt? Der Referent, Yilmaz Atmaca, von MIND prevention führt anschaulich aus eigener Erfahrung mit türkischem Hintergrund aus, wie es ist, in starren Wertestrukturen von Familie und Gesellschaft verhaftet zu sein. Das Frauenbild und die soziale Stellung auf der „Treppe“ zählen. Diese kann man nur aufbrechen, wenn man einen jungen Mann außerhalb der Werteskala in Beziehung bringt mit anderen Vorstellungen. Die als klischeehaft empfundene Darstellung der hierarchischen Strukturen löst bei manchen GefängnisseelsorgerInnen eine heftige Debatte aus. Die Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Geborgensein wird im Knast verunmöglicht. Wer als „knastschwul“ gilt wird ausgegrenzt.

Pornographie

Wie jugendliche Sexualität heute aussieht, welche Rolle Pornokonsum spielt und wie Selbstfindung gelingt führt der Kinder- und Jugendpsychologe Michael Elsner aus. Leibhaftig ist er aus Nürnberg an den Ammersee angereist. Er spricht zu den Auswirkungen von Pornographie bei Jugendlichen und der Zusammenhang von Pornographie und grenzverletzendem bzw. straffälligem Verhalten von jungen Männern. „Pornografische Mainstream-Filme priorisieren die sexuellen Vorlieben und das Vergnügen von Männern“, sagt Elsner. „Es ist einer der größten Märkte. Pro Jahr werden über 100 Billionen Videos konsumiert. Pro Erdbewohner sind das 12,5 Videos“, führt der Kinder- und Jugendpsychologe aus. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Bindung und Sexualität. „Pornos gaukeln dir immer eine große, geile Orgie vor. Die Realität aber ist: Ich habe noch nicht mal eine Freundin gehabt. Ich bin einsam. Und je mehr ich die ausgelassene Sexualität anderer Leute auf der Mattscheibe flimmern habe, desto mehr wird mir diese Einsamkeit bewusst. Aber aufhören mit Pornos? Was hab ich denn sonst?“ erzählt der zwanzigjährige Patrick in einem Fallbeispiel des Kinder- und Jugendpsychologen.

Tanzende Gänse am Ufer des Ammersee in Riederau.

Sozialtherapeutische Abteilung (SoThA)

Ein virtuelles Gespräch mit der Sozialtherapie für Sexualstraftäter der JVA Neuburg-Herrenwörth ist als Videokonferenz des Behördennetzwerkes Bayern mit den dortigen MitarbeiterInnen Dipl.-Psychologin Vaya Emmanouil und Dipl.-Psychologin Verena Pfaller erfolgt. „Man muss als Therapeutin manches Mal mit dem Inhaftierten mittanzen, obwohl man das, was derjenige nach außen kommuniziert, nicht das ist, was man selbst denkt. Es geht darum, die Beziehung zu stärken und dadurch kann ein Veränderungsprozess eintreten,“, sagt die Leiterin der SoThA für Sexualstraftäter. Vollzug und Therapie ist nicht einfach zusammenzubringen. Damit sich junge Männer öffnen können, bedarf es verschiedener Ansätze. Unter anderem ist ein Problem, dass es oft ausschließlich Therapeutinnen sind, die die Gespräche führen. Ein männlicher Therapeut hat einen anderen Blick, der Räume eröffnen kann.

Schiffüberfahrt Kloster Andechs

Zum ersten Mal seit fast zwei Jahren ist die eine Veranstaltung, die nicht alleine am Bildschirm durchgeführt wird. Im Tagungshaus der „Ammenseehäuser“ werden die Gespräche in den Pausen und am Abend in persönlichen Kontakten weitergeführt. Die Schiffüberfahrt zum gegenüberliegenden Kloster Andechs zeigt, wie sehr sich GefängnisseelsorgerInnen um ihr eigene Psychohygiene kümmern dürfen. Der Tanz als Metapher spiegelt sich im Thema der Tagung zur Sexualität wieder: Nähe und Distanz sowie eine gute Schrittfolge, mit der man sich auch mal auf die Füße treten kann, sind wichtig. Ganz besonders an dem Ort, an dem die GefängnisseelsogrerInnen arbeiten. Nächste gemeinsame Tagung in Bergisch-Gladbach…

 

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