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Klinik statt Knast: Strafrabatt für Abhängige?

6. November 2019

Der Paragraf 64: Unter Straftätern wird er inzwischen auch „Aldi-Paragraf“ genannt, weil man da „billiger“ davon kommt. Je mehr man trinkt oder Drogen nimmt, desto geringer ist die Strafe, die man absitzen muss. Ist das gerecht? Laut Paragraf 64 Strafgesetzbuch sollen Personen, die im Rausch eine rechtswidrige Tat begangen haben, in einer Erziehungsanstalt untergebracht werden. Fast immer ist das verbunden mit einem umfangreichen Straf-Rabatt.

Davon profitieren Gesetzesbrecher wie Peter M. Er lebt in der Klinik für drogen- und alkoholabhängige Straftäter in Günzburg, einer von 14 solchen forensischen Einrichtungen Bayern. Der Fall von Peter M. ist besonders gravierend: Verurteilt wurde der 37-Jährige wegen schwerer und gefährlicher Körperverletzung. Eigentlich müsste Peter M. dafür sechs Jahre im Regel-Vollzug absitzen, doch stattdessen ging es in Therapie, das sei viel angenehmer:

Peter M. konnte vor Gericht Alkoholabhängigkeit geltend machen: Er war während der Tat betrunken. Der Verteidiger beantragte einen Strafrabatt nach Paragraf 64 Strafgesetzbuch. Peter M. wurde statt zu sechs nur zu drei Jahren verurteilt. Ein Jahr davon verbüßte er in einer Justizvollzugs-Anstalt, gefolgt von zwei Jahren Therapie im Maßregelvollzug in der Klinik in Günzburg.

Überbelegung durch Missbrauch der Therapieidee

Immer öfter nutzen Kriminelle und ihre Strafverteidiger den Rabatt des Paragrafen 64 für Straftaten, die nicht wirklich unter Alkohol oder Drogeneinfluss stattgefunden haben. Andreas Schulz war 30 Jahre lang Strafverteidiger in München und Berlin und sagt: „Ich glaube, dass die Frage des Paragrafen 64 letztendlich eine Marketing-Maßnahme für Anwälte ist, im Kampf um den Mandanten. Im Rahmen einer effektiven Strafverteidigung wird dieses Rechtsmittel inzwischen inflationär eingesetzt. 

Ein Missbrauch der Therapie-Idee also. Die Folge: Dramatische Überbelegungen in den Forensischen Kliniken – auch in Günzburg. Eigentlich gibt es hier 96 Plätze. Inzwischen sind es aber 120 Patienten. Das bedeutet übervolle Therapiegruppen und eine deutliche Verschlechterung der Therapieerfolge. Nur weil man in Günzburg entschieden hat, fast 30 Patienten vorzeitig daheim wohnen zu lassen, ist die Situation noch beherrschbar. Für die ärztliche Direktorin Dr. Manuela Dudeck ein unhaltbarer Zustand, der die Entzugs-Therapie an ihre Grenzen bringt: „Wenn dann noch ein Patient dabei ist, der gar keine Motivation hat, dann wirkt sich das schädlich auf die anderen aus, weil Motivation nicht ein gefestigtes Konstrukt ist, sondern sich jederzeit ändern kann.

Dramatische Überbelegung in den Forensischen Kliniken

Die Voraussetzungen für die Anwendung des Paragraf 64 und damit auch die richtige Motivation soll eigentlich ein gerichtlicher Gutachter während des Prozesses feststellen. Immer mehr Gerichte gehen hier auf Nummer sicher. Um eine Revision zu vermeiden, werden Täter inzwischen schon bei leichtem Verdacht auf Alkohol-und Drogenabhängigkeit nach Paragraf 64 verurteilt. Die Leiterin des Amtes für Maßregelvollzug Dorothea Gaudernack sieht deshalb auch bei den Richtern eine Mitschuld.

Die Richter sehen das anders. Der Bundesgerichtshof hatte in den vergangenen Jahren immer wieder Urteile aufgehoben, die keinen Strafrabatt nach Paragraf 64 berücksichtigt hatten. Am Oberlandesgericht in München sieht man laut Sprecher Florian Gliwitzky die Entwicklung kritisch: „In der höchstrichterlichen Rechtsprechung hat sich in den letzten Jahren eine gewisse Tendenz herausgebildet, dass die Voraussetzungen für den Paragrafen nicht zu hoch angesetzt werden dürfen.“

Das bedeutet, die Gerichte legen den Strafrabatt immer großzügiger aus. Deshalb wird nun von Justizexperten eine schnelle Änderung des Paragrafen 64 immer lauter geforderte. Das dafür zuständige Bundesjustizministerium sieht aber keine Dringlichkeit, will erst mal eine Arbeitsgruppe gemeinsam mit den Ländern gründen. Mehr lesen…

Till Rüger | BR Fernsehen


 

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