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Irgendwann ist der Tank leer. Wo tanken in Krisenzeiten?

25. Mai 2021

Ende Mai 2021, meine Frau und ich sitzen zum ersten Mal seit 8 Monaten wieder in einem Biergarten und genießen über alle Maßen diesen kleinen Teil der zurückgewonnen Freiheit. In der Corona-Krise der zurückliegenden Monate ging das ständige Vertrösten und Warten auf bessere Zeiten mit einem ungleich stärkeren Kraftverlust einher als noch während des ersten Lockdown. Und es stellte sich mir die Frage: Womit tanken wir auf? Die Möglichkeit eine Zapfpistole von einer Tankstelle online bestellen zu können, war für mich inspirierend.

Was hilft mir und welche Kraftquellen halten mich am Laufen? Dabei muss man meinen Arbeitsalltag als evangelischer Gefängnispfarrer im Jugendvollzug der JVA Herford etwas näher beschreiben: Seelsorglich haben mein katholischer Kollege Michael King und ich in den vergangenen Monaten ein neues Kapitel unserer Arbeit aufgeschlagen: Die Einzelgespräche wurden noch einmal um einiges intensiver und vor allem länger. Der große Gesprächsbedarf lag vor allem daran, dass die inhaftierten Jugendlichen im Alter von 14 bis 24 Jahren zeitweise keinen Besuch ihrer Angehörigen erhielten. Später gab es dann zumindest die technische Lösung, mit der Familie zu skypen. Derzeit darf eine Person hinter einer Trennscheibe für zwei Stunden im Monat zu Besuch kommen. War es zunächst spannend diese neue Situation als Seelsorger zu begleiten, spürten wir doch, wie sehr die Gespräche uns auszehrten, denn wir waren nicht nur nah dran, sondern auch mitten drin, denn Corona hat ja auch etwas mit uns gemacht.

„Kommt her zu mir alle…“ So beginnt einer der wichtigsten Sätze von Jesus von Nazareth. Er wird eigentlich immer als freundliche Einladung verstanden, sich in schwierigen Zeiten an ihn zu wenden und dadurch „Erquickung“, wie Luther es übersetzt, bzw. Stärkung zu erfahren. Was wäre, wenn dieser Satz aber eine zweite Botschaft hinter der Botschaft hätte. Ich denke an ein Schild aus den USA an der Route 66, auf dem es heißt: Last Chance Gas Station. Was wird aus der freundlichen Einladung, wenn wir längst auf Reserve fahren? So lange der Tank halb voll ist, brauchen wir derartige Kraftressourcen nicht. Ist er halb leer, fangen wir schon mal an zu jammern oder sogar an zu protestieren. Gar nicht daran zu denken, sollten wir auf Reserve fahren oder mit einem leeren Tank liegen bleiben. Aus der freundlichen Einladung wird eine Mahnung: Last Chance! Oder: „Kommt her zu mir alle… .“

Es gibt Phasen eines Inhaftierten im Jugendvollzug, da geht nichts mehr, wenn das Urteil über eine lange Haftstrafe feststeht, die Freundin Schluss macht oder angebliche Freunde nichts von sich hören lassen. Dies ist in gewisser Weise auch so bei dem BeamtInnen, in der Verwaltung, im Sozialdienst, im psychologischen Dienst, bei den PädagogInnen oder dem erziehungswissenschaftlichen Dienst und nicht zu vergessen beim Werkdienst, den MeisterInnen in den Betrieben. Und irgendwann auch bei den SeelsorgerInnen. Irgendwann ist der Tank leer.

Mittlerweile ist die Tankpistole längst angekommen und in der Kirche symbolhaft aufgestellt dazu ein leerer Benzinkanister und das Schild von der Route 66 „Last Chance Gas Station“. Mehr braucht es nicht und es sprudelt im Gottesdienst geradezu aus den jungen inhaftierten Männern heraus. Auf kleinen Etiketten schreiben sie ihre Kraftquellen: die Familie, gutes Essen, Geld, ein Lächeln, eine Woche auf der Insel. Die Zapfpistole hängt plötzlich voller Kraftquellen. Die zurückliegenden Monate haben aus der freundlichen Einladung eine offenkundige Mahnung gemacht: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“ Und umso erstaunlicher ist es, dass wir das gerade von den jungen Inhaftierten lernen können, die genau wissen, was Kraftquellen für ihr Leben sind, wenn man sie nicht hat, weil eine Mauer, ein Zaun und dazu noch ein Virus sie davon abschneidet.

Und weil wir als Seelsorger nicht nur nah dran sondern selbst mitten drin sind, musste ich noch einmal über meine Rolle als Stefan Thünemann in diesen bewegten Zeiten nachdenken. Das antike CURA SUI, die Sorge um mich selbst, kam mir in den Sinn. Die Tätigkeit der Seele, meiner Seele, die zugleich Subjekt und Objekt ist. Letzteres mit dem Ziel, der Tugend, der „Vortrefflichkeit“ näher zu kommen. Zumindest erinnere ich mich so aus Vorlesungszeiten. Seelsorge als tugendhafte Übung in der Selbstbeherrschung, Rücksicht auf mich und auf andere zu nehmen, z.B. auf Risikogruppen unserer Gesellschaft. Ich denke, dies wird jetzt, da wir zunehmend über Lockerungen der sozialen Distanzierungen nachdenken, auch zu einer Übung der Vortrefflichkeit werden. So fast vergessen wie dieses Wort ist, so dringlich ja fast schon mahnend auch diese Art der Seelsorge für mich selbst: Auftanken als Selbstfürsorge.

Übrigens sind wir am nächsten Tag gleich noch einmal in den Biergarten gegangen, weil wir so dankbar waren, dass das wieder möglich ist. In der JVA in Herford gibt es ein Mosaik auf einem Blumenkübel mit der Aufschrift: Schätze die Freiheit. Auch eine Form, Kraft zu tanken.

Stefan Thünemann | JVA Herford

 

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