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Bei Inklusion spielen Seelsorger wichtige Rolle

5. September 2019

Es gibt Menschen, die sich auffällig verhalten. Manche haben einen besonderen Betreuungsbedarf, sind psychisch krank oder in ihren Fähigkeiten eingeschränkt. Sie haben ein Recht darauf, im Alltag mit Respekt behandelt zu werden. Aber was passiert, wenn solche Menschen straffällig werden und ins Gefängnis müssen? Der Häftling hätte nichts dagegen, wenn sein Name in der Zeitung steht. Aber das sei keine gute Idee, meint der uniformierte Beamte, der mit im Raum sitzt. „Manchmal müssen wir unsere Inhaftierten vor sich selber schützen“, sagt Jörg Glang, Bereichsleiter im Vollzugsdienst. Also bekommt der junge Mann einen fiktiven Namen: Hans.

Die Außenstelle der JVA Bielelfeld-Senne in Theenhausen (Werther) verfügt über 51 Haftplätze. Foto: Andreas Boueke

Hans ist 24 Jahre alt und seit knapp einem Jahr inhaftiert. Voraussichtlich muss er noch bis 2021 im Hafthaus Theenhausen bleiben, eine Außenstelle von Europas größter Einrichtung des offenen Strafvollzugs, der Justizvollzugsanstalt Senne bei Bielefeld. Das Personal ist auf die Inklusion von verhaltensauffälligen Straftätern spezialisiert. Jörg Glang kennt die Akte von Hans: „Bei ihm fing die Institutionalisierung schon in der Kindheit an, mit verschiedenen Jugendhilfeeinrichtungen. Außerdem hat er eine körperliche Einschränkung. Seine Voraussetzungen, das Leben zu meistern, waren von Beginn an schlecht.“

Von den 51 inhaftierten Bewohnern des kleinen Hafthauses hat jeder fünfte einen besonderen Betreuungsbedarf. In keinem Haftraum soll mehr als ein verhaltensauffälliger Mann untergebracht sein. „Den Männern mit Einschränkungen soll nicht direkt auffallen, dass sie anders sind“, erläutert Glang, „möglichst soll nicht der Eindruck entstehen, dass wir mit ihnen anders umgehen als mit den anderen Insassen. Sie werden weitgehend gleich behandelt. Wir fordern von ihnen, dass sie das leisten, was sie können. Inklusive Unterbringung bedeutet eben auch, dass alle zusammen leben, ohne Ausgrenzung aber auch ohne Sonderstatus.“ Hans ist Adoptivkind. Seine leiblichen Eltern hat er erst nach seinem achtzehnten Geburtstag kennengelernt. Wenn er an seinen Adoptivvater denkt, kommen viele Emotionen hoch. Er spricht von Gewalt und Missbrauch. „Da hat sich leider viel Wut angestaut“, sagt Hans. „Irgendwann habe ich meinen Adoptivvater gefragt, warum er mich in der Vergangenheit so behandelt hat. Aber er stritt alles ab. Da ist mir leider die Hutschnur gerissen. Ich habe ihn geschlagen und beklaut, zusammen mit einem Mittäter, der ihn mit einer Waffe bedroht hat. Deswegen bin ich im Knast.“

Hans hatte Glück. Wenige Wochen nach Haftantritt wurde er in den offenen Vollzug verlegt. An solchen Entscheidungen ist die Abteilungsleiterin Kristin Simon beteiligt. Sie meint, Hans passe gut in ihre Außenstelle: „ Er ist so ein bisschen lebensuntüchtig. Er braucht viel Anleitung. Zum Beispiel muss man ihn tatsächlich jeden Morgen daran erinnern, dass er aufstehen muss, sich waschen muss, sich nicht wieder ins Bett legen kann.“ Bei der Betreuung verhaltensauffälliger Häftlinge kann die Seelsorge eine wichtige Rolle spielen, sagt Kristin Simon: „Unser Seelsorger macht viel Freizeit mit Hans. So lernt er, dass es noch andere Beschäftigungen gibt, als immer nur Fernsehen zu gucken.“

Pfarrer Mirko Wiedeking war der erste Seelsorger, mit dem Hans je gesprochen hat: „Er hilft mir sehr mit meinen Problemen. Alle drei Monate macht er einen Stadtausgang mit mir. Das ist toll und bringt mich auf andere Gedanken.“ Suche eines Zugangs Wiedeking freut sich über die intensive Beziehung zu Hans. Aber er ist natürlich auch offen für Gespräche mit allen anderen Häftlingen: „Wir Seelsorger suchen einen Zugang zu jedem Menschen. Da ist es relativ egal, ob er eine psychische Krankheit hat oder eine Intelligenzminderung. Häufig sind das Menschen, die in ihrem früheren Leben nicht viel Aufmerksamkeit erfahren haben, die kaum Zuspruch bekommen haben, die aus zerrütteten Familien stammen. Gerade für sie ist es sehr wertvoll, wenn sie merken: Da ist einer, der kommt immer wieder.“

Auch das Gefängnispersonal sieht in der Seelsorge eine große Hilfe, die deutlich zur Verbesserung der Atmosphäre unter den Häftlingen beiträgt: „Das ist ein wichtiger Termin, auf den sich unsere Insassen den ganzen Tag freuen“, sagt Jörg Glang. „Schon zwei oder drei Tage vorher denken sie darüber nach, welche Themen sie ansprechen wollen, häufig familiäre Sachen, die sie mit uns Uniformierten nicht bereden würden. Dann strahlen sie über das ganze Gesicht. So einen persönlichen Kontakt finden sie im Strafvollzug sonst nur sehr selten.“ Je näher ein Termin mit dem Pastor rückt, desto aufgeregter wird Hans. „Weil ich mich darauf freue, ihn wieder zu sehen. Dann denke ich auch immer: ‚Da war doch was, wo ich gerne mit ihm drüber sprechen würde.‘ Das kommt dann sehr gelegen.“

Mirko Wideking im Hafthaus Senne bei der Präsentation der Ausstellung „Mensch Jesus“. Foto: Ronald Pfaff

Pünktlich zur Arbeit

Ein vorrangiges Ziel des offenen Vollzugs ist es, die Gefangenen wieder an den Alltag in Freiheit heranzuführen. Sie sollen sich möglichst selbstständig ein soziales Umfeld aufbauen und eine Anstellung bei externen Arbeitgebern finden. Doch bei Inhaftierten mit besonderem Betreuungsbedarf sind die Ziele andere. Sie sollen sich langsam an eine regelmäßige Beschäftigung gewöhnen. Dabei darf man sie nicht überfordern, sagt Jörg Glang während eines Kontrollgangs durch die Flure des Hafthauses. „Sie müssen jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit ausrücken, sei es auf die Felder der Außenbeschäftigung oder in den Therapiegarten. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sie auf ihre Tätigkeit stolz sind. Viele sind glücklich, dass ihre Arbeit anerkannt wird. So stehen sie auch wirklich pünktlich um acht Uhr bereit und gehen freudestrahlend nach draußen.“

Direkt neben dem Hafthaus liegt das Gemüsefeld eines Biobauernhofs. Dort arbeitet Hans besonders gern, weil die Bäuerin und ihre Angestellten so nett zu ihm sind: „Die gehen anders mit uns Häftlingen um als andere Chefs. Wenn man was falsch macht, reden die mit uns und man wird nicht gleich wieder gekündigt.“ Der Umgang mit Häftlingen wie Hans braucht viel Geduld. Die dafür notwendige Zeit können Vorgesetzte der meisten Betriebe nicht aufbringen. Kristin Simon kann das verstehen: „Auf Grund des häufigen Drogenkonsums sind viele Gefängnisinsassen besonders schwerfällig. Man muss ihnen die Dinge geduldig zeigen und erklären. Drogen machen lebensuntüchtig. Diese Leute sind es gewohnt, Heroin zu spritzen, oder die ganze Zeit auf der Couch zu liegen und zu kiffen. Eine solche Haltung ändert sich nicht von heute auf morgen.“

Nach Einschätzung des Bundesjustizministeriums haben zwei Drittel der Insassen deutscher Gefängnisse Probleme mit Drogen. Auch deshalb müssen uniformierte Bedienstete wie Jörg Glang mit Langmut und Empathie gewappnet sein. „Wir stehen öfter bei den Leuten am Bett und fragen, wie es heute geht, ob es heute schon funktioniert hat mit der Körperhygiene. Oder wir waschen zusammen die Wäsche.“ Kristin Simon hat das außergewöhnliche Engagement von Jörg Glang und seinen Kollegen in den drei Jahren als Abteilungsleiterin schätzen gelernt: „Die sind zum Teil schon sehr lange hier und sind unheimlich behandlerisch eingestellt. Die kümmern sich einfach. Das ist schon ein besonderes Flair.“

Etwa jeder siebte der rund 74.000 Gefangenen in Deutschland verbüßt seine Haftzeit im offenen Vollzug. Straffällig gewordene Menschen sollen resozialisiert werden, um die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. Dabei spielt die Sicherung und Bestrafung nur eine untergeordnete Rolle, meint die Anstaltsleiterin Kerstin Höltkemeyer-Schwick. In ihrem Arbeitsalltag steht der Schutz der Häftlinge selbst häufig mehr im Vordergrund, als der Schutz der Gesellschaft: „Es sind auch Opfertypen dabei, grenzwertig debil oder auch zum Beispiel Leute mit Tourette-Syndrom, einer neuropsychiatrische Erkrankung, die sich in sogenannten Ticks wie spontane Bewegungen oder Laute äußert. Früher hat man sich um solche Grenzgänger nicht besonders gekümmert.“

Hans jedenfalls hat von der neuen Haltung profitiert. „Ich habe hier gute Erfahrungen gemacht. Es gibt zwar immer wieder mal ein paar Neuankömmlinge, die meinen, sie könnten den Harten raushängen lassen. Aber wenn man merkt, dass die hier nicht reinpassen, kommen sie auch schnell woanders hin.“

Andreas Boueke | Kirchenzeitung Bistum Eichstätt Nr. 36

 Zum Thema: Versöhnen heißt heilen

Im März 2006 (überarbeitet 2015) veröffentlichte die Deutsche Bischofskonferenz ihr Wort „Denkt an die Gefangenen, als wäret ihr mitgefangen“ (Hebr 13, 3). Der Auftrag der Kirche im Gefängnis“, das vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn in der Rubrik „Die deutschen Bischöfe“ als Nummer 84 herausgegeben wurde. Daraus einige Textpassagen:

„Gefängnisseelsorge gründet in dem Auftrag, der der Kirche vorgegeben ist: dem Menschen die froh machende und heilende Botschaft von Gott durch das Zeugnis des Lebens und das Wort zu verkünden und erfahrbar zu machen: die Botschaft vom kommenden Gottesreich, von der Versöhnung mit Gott und den Menschen, von der Vergebung der Sünden. (…)

Gefängnisseelsorge stellt einen Teilbereich der kirchlichen Seelsorge dar und ist ihrem Grundauftrag verpflichtet, dem Herrn Jesus Christus in seiner Sendung zu helfen, dass die Menschen „das Leben haben und es in Fülle haben (Joh 10, 10). (…)

Versöhnung ist das Werk Jesu Christi im Neuen Testament, Versöhnung ist der Auftrag Jesu Christi an den Seelsorger im Umgang mit den Menschen im Justizvollzug. Versöhnen heißt heilen, heil machen, was unheil ist. Durch seinen Dienst der Versöhnung wird der Seelsorger zum ‚Werkzeug’ der Kirche, zum ‚Werkzeug‘ Gottes und dabei auch zum ‚Werkzeug‘ der Gesellschaft. (…)

Die Seelsorge eröffnet den Menschen im Gefängnis Räume, in denen sie Gott, ihrem Schöpfer und Erlöser, gegenübertreten können. Sie treten ein in eine Beziehung zu einem personalen transzendenten Du. In der Erfahrung des bleibenden Gewollt- und Geliebtseins wird es ihnen möglich, die Angst zu überwinden, dass sie mit der Schuld jegliche Daseinsberechtigung verloren haben. (…)

Die auf Jesus Christus gegründete Hoffnung vermag dem Leben und Arbeiten im Gefängnis eine Sinnperspektive zu eröffnen. So wird eine Arbeit an der Resozialisierung sinnvoll, auch wenn sie keine kurzfristigen und messbaren Ergebnisse zeitigt. (…)

Im Blick auf den gemeinsamen Seelsorgeauftrag sind Priester, Diakone, Ordensleute und Laien als hauptberufliche Gefängnisseelsorger untereinander gleichrangig. Taufe und Firmung befähigen alle Christen dazu, die Kirche im Gefängnis erfahrbar zu machen und die frohe Botschaft in ihrem Handeln zu bezeugen. Die Beauftragung macht diese Befähigung ausdrücklich und weist die Beauftragten gegenüber staatlichen Stellen als rechtmäßige Vertreter der Kirche aus. (…)“

 

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