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Raquel Erdtmann ist als Gerichtsreporterin tätig

11. Juli 2019

Wero Lisakowski | hr-fernsehen Hauptsache Kultur.

Was bringt einen Menschen dazu, einen anderen umzubringen? Was steckt hinter einem Verbrechen? Wieso wird jemand zum Täter? Fragen, mit denen sich Gerichte beschäftigen. Die aber auch Raquel Erdtmann genau verfolgt. Sie begleitet die großen Fälle, die so tragisch und grausam sind, dass sie unsere Vorstellungskraft übersteigen. Sie ist Gerichtsreporterin. Und ihre Reportagen geben einen tiefen Einblick in menschliche Abgründe.

Raquel Erdtmann beobachtete den so genannten „Fall Susanna“ am Wiesbadener Landgericht. Es war der Prozess gegen den 22-jährigen Iraker Ali B., der wegen Mordes an der 14-jährigen Susanna aus Mainz zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt wurde. Am Ende wird sie ihre Geschichte dazu schreiben. „Die Realität schlägt die Fiktion. Wenn sie solche Geschichten als Prosatexte schreiben würden, würde Ihnen das keiner glauben. Bin ich fest davon überzeugt, ja. Es ist so: Nichts ist erschreckender auch als die Wirklichkeit“, erklärt Erdtmann.

Prozesse finden per Zufall

Ein Fall, den sie aktuell beobachtete: Der 22-jährige Iraker Ali B. sitzt wegen Mordes an der 14-jährigen Susanna auf der Anklagebank im Wiesbadener Landgericht. Er gibt zu, das Mädchen getötet zu haben. Raquel Erdtmann verfolgt den Prozess seit Wochen. Später wird sie darüber eine Geschichte schreiben und auch versuchen die Stimmung im Saal einzufangen. „Das ist eine sehr angespannte Stimmung“, beschreibt sie. „Das Verfahren selber ist sehr mühsam zu verfolgen, denn es sind sehr viele jugendliche Zeugen, die auch eingeschüchtert sind. Die Tat selber ist auch für die Rechtsmedizin nicht mehr zu rekonstruieren, denn das Mädchen hat ja zwei Wochen nach der Tat dort gelegen in diesen Bahngleisen, wo dann irgendwann der Leichnam gefunden worden ist. Zwei Wochen halb vergraben bei 30 Grad. Also, man hat nur die Version der Tat, die der Angeklagte schildert.“

Erst am Ende, nach der Urteilsverkündung, wird Erdtmann ihre Geschichte schreiben. Video: © hr fernsehen | hauptsache kultur

Es sind diese schwierigen Fälle, die Raquel Erdtmann interessieren. Meistens berichtet sie vom Frankfurter Amts- und Landgericht. Bekannt sind ihre großen Reportagen aus der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Jetzt sind ihre Geschichten als Buch erschienen: „Und ich würde es wieder tun… „, so der Titel – spektakuläre Kapitalverbrechen und andere Delikte, auf die sie oft per Zufall stößt. „Es ist oft so, dass ich hierher komme und dann die Leute sehe, die in das Gericht kommen und mit ihren Vorladungen. Oder ich gehe an den Aushängen vorbei und lese die Namen oder sehe Leute, die da eben warten und entscheide mich um. Und dann hab ich auch paar Lieblingsverteidiger, denen ich folge und wenn ich jemanden von der Rechtsmedizin sehe, dann gehe ich da auch meistens hinterher, weil ich für die so eine kleine Schwäche habe“, gesteht sie lächelnd.

Denn gerade die ungeklärten, oft strittigen Fälle, die die Rechtsmediziner auf den Plan rufen, sind für sie spannend zu verfolgen. War es Mord oder nicht? Wie im Thielsch-Prozess 2016. Eine Frau steht mit ihrem Freund küssend am Zebrastreifen. Ein Mercedes kommt angefahren. Der junge Fahrer hält kurz an, gibt Gas, erfasst die Frau und schleift sie 400 Meter mit, ehe er sein Auto anhält. Erdtmann liest aus ihrer Reportage: „Die Zeugen berichten von Schreien, dem Anblick einer Frau, die auf der Motohaube sitzt und mit einem Mal, „wie vom Erdboden verschlugen war“. Eine Zeugin drückt es so aus: „Wie eine Gallionsfigur saß die Frau zurückgekippt auf der Motorhaube. Das Auto ist mit unverminderter Geschwindigkeit durch die Kurve“. Manche wollen gar Schleifgeräusche gehört, „einige gar ein Heben und Senken der Scheinwerfer gesehen haben.“

In ihren Reportagen lässt Raquel Erdtmann bewusst mal die Zeugen zu Wort kommen, mal die Angeklagten, dann die Richter. Ihre Prozess-Schilderungen sind plastisch und detailgetreu. Wenn sie ein Verfahren beobachtet, verpasst sie keinen einzigen Verhandlungstag. „Ich sitze da und versuche möglichst viel mitzuschreiben, auch Beobachtungen mitzuschreiben. Und versuche dann nach der Urteilsverkündung, das so präzise wie möglich zu schildern, dass es quasi ablaufen kann für den Leser wie ein Film“, so Erdtmann.

„Was ich empfinde oder denke über die Sache, ist völlig uninteressant, es geht darum, dass man es so präzise wie möglich und so wahrhaftig wie möglich schildert..“, so Erdtmann.

Worte für das Unbegreifliche

Eigentlich ist Raquel Erdtmann ausgebildete Schauspielerin. Als sie die Chance bekommt für die Zeitung zu schreiben, wechselt sie die Rolle: „Was mich, glaube ich, schon immer interessiert hat, ist Leute zu beobachten. Und ich fühle mich auch in der Rolle der Beobachterin sehr viel wohler als Protagonistin.“ Und es ist diese Beobachtungsgabe, die ihre Reportagen so spannend macht. Dabei ringe sie um Objektivität und Worte, sagt sie. Und manchmal helfe ihr da ihre Schauspielausbildung: „Ich habe das ganz oft, wenn ich mir nicht sicher bin, wie, in welcher Verfassung jemand war, dass ich mich wirklich dabei ertappe, dass ich am Schreibtisch sitze und das nachahme, die Art und Weise, wie jemand sprach und wie jemand da saß. Das hilft mir dann auch oft, die passenden Worte zu finden.“

Die passenden Worte für das Unbegreifliche. Wie für den Vorfall 2016 in einem Frankfurter Nacht-Club. Drei Freunde wollen feiern. Angetrunken taumeln sie in eine Gruppe von Männern, die den „Osmanen Frankfurt“ angehören, einer Rocker-ähnlichen Organisation. Die reagieren auf die betrunkenen Club-Besucher mit einer unvermittelten Brutalität. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Ein Vorfall, der auch bei der Gerichtsreporterin lange Zeit nachwirkt. „Robert wird dabei die Nase gebrochen. Er hat Glück. Amato hat kein Glück. Ihn trifft ein einziger Faustschlag am Auge, der den großen durchtrainierten Mann glatt zu Boden streckt. Das Personal führt den blutüberströmten Robert hinaus zu den Stühlen eines Cafés gegenüber dem Eingang. Den leblosen Amato tragen vier Männer hinauf und legen ihn auf die Bistro-Tische dort“, sagt Erdtmann.

Was Raquel Erdtmann im Gerichtsaal mitbekommt, ist manchmal schwer zu verdauen. Tragische Schicksale, absurde Szenen und grausame Details. Was empfindet sie dabei? Und wie geht sie damit um? „Was ich empfinde oder denke über die Sache, ist völlig uninteressant, es geht darum, dass man es so präzise wie möglich und so wahrhaftig wie möglich schildert, was man sieht, beobachtet und das wiedergibt. Möglichst ohne Schmus und Gedöns, es sind ja echte Leute.“ Es ist gerade dieses Ringen um Wahrhaftigkeit, das allen Beteiligten ihre Würde lässt. Raquel Erdtmanns Reportagen machen auch deutlich, wie wenig es manchmal nur braucht, um auf der Anklagebank zu landen. → Video hier

Mit freundlicher Genehmigung: hr-fernsehen Hauptsache Kultur

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