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Was heißt im Gefängnis eingesperrt zu sein?

5. Juni 2019

Jesu Antrittsrede in Nazaret, sozusagen seine erste Predigt im Lukasevangelium. Sie ist mir zu meiner liebsten biblischen Begründung meiner Arbeit im Gefängnis geworden. Schon zwei Mal – zuletzt erst vor ein paar Wochen – durfte ich diese „Aufgabe“ übernehmen und einem Gefangenen die Entlassung verkünden. Ich kann nur schwer in Worte fassen, welche Gefühle das in mir ausgelöst hat: erst ein ungläubiges Nachfragen, dann hoffendes Staunen und schließlich diese Freude bei dem, der gehen darf. Normalerweise ist der Entlassungstag schon Wochen vorher bekannt und solche Blitzentlassungen sind sehr selten. Umso mehr verdichten sich in diesen Momenten die ganzen Emotionen, die mit dieser „Befreiung“ verbunden sind.

Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe (Lk 4, 18-19). Mir wird in solchen Momenten nochmal besonders klar, dass es wirklich eine Strafe ist, eingesperrt, im Gefängnis zu sein. Es ist eben kein Luxus-Leben im Knast, wie schon zu lesen war und die Vorstellungen, dass es „denen da drinnen viel zu gut geht“ gehört doch eher den Stammtischparolen an. Die Freiheitsstrafe, also der Entzug der Freiheit für eine bestimmte Zeit, ist die härteste Konsequenz, die in unserer freiheitlich verfassten Demokratie nach Verstößen gegen unser Strafgesetzbuch verhängt wird. Solange wir in Freiheit leben, können wir uns nur schwer vorstellen, was es heißt im „Knast“ eingesperrt zu sein; was es heißt, wenn die meisten Entscheidungen für mich und über meinen Kopf hinweg entschieden werden.

Ich will im Folgenden einen kleinen Eindruck davon vermitteln, womit die Inhaftierten in der JVA Frankenthal leben müssen. Ich tue dies mit der Brille des Gefängnisseelsorgers, für den Empathie, Einfühlungsvermögen, Mitgefühl, ein gewisses Maß an Sympathie mit den Inhaftierten zum Job gehören. Ich tue dies zugleich mit der Brille eines Menschen, der einen Schlüssel für die meisten Türen hat und am Ende des Tages wieder „raus ins echte Leben“ zu Familie, Freunden und Hobbies darf. Ich bin nah dran am Erleben der Gefangenen und doch weit weg von der persönlichen Betroffenheit.

Was bedeutet Gefängnisstrafe?

Gefängnisstrafe, das bedeutet Leben auf 8,5 qm in einer Einzelzelle bzw. 17 qm in der Drei-Mann-Zelle. Es bedeutet im gleichen Raum schlafen, lesen, schreiben, essen und auf die Toilette gehen. Es bedeutet, für jedes meiner Anliegen einen Antrag schreiben zu müssen: die neue Telefonnummer meiner Freundin genehmigt zu bekommen, mit der Psychologin oder dem Sozialarbeiter reden zu können.

Ich schreibe einen Antrag, wenn ich arbeiten will, wenn ich Passfotos oder Beratung vom Jobcenter will. Einen Antrag, wenn ich an einer Freizeitgruppe oder an einer Behandlungsmaßnahme teilnehmen will, wenn ich einen Wasserkocher kaufen oder eine Zeitschrift abonnieren will. Einen Antrag, wenn ich meiner Frau Geld überweisen oder einen Fernsehgerät mieten will. Ohne Antrag geht im Gefängnis nichts – und wenn ich einen Antrag gestellt habe, muss ich warten, bis jemand auf diesen Antrag reagiert.

Gefängnisstrafe, das bedeutet Geduld haben und warten. Warten auf den nächsten Besuch, auf die Hofstunde, auf Arbeit und den nächsten Einkauf in zwei Wochen. Warten auf den Vollzugsplan, in dem über Behandlungsmaßnahmen und Lockerungen entschieden wird, warten auf einen Therapieplatz. Warten, ob heute Freizeit stattfindet, in der ich duschen oder telefonieren kann.

Gefängnisstrafe, das bedeutet in einem starr vorgegebenen Zeitrahmen zurecht zu kommen: 6 Uhr Wecken, 7-11 Uhr Arbeit (sofern ich Arbeit bekomme), 11.15 Uhr Mittagessen, 12-15 Uhr wieder Arbeiten, 15.30-16.30 Uhr Hofstunde (die einzige Möglichkeit, unter den freien Himmel und an die frische Luft zu kommen), 17.00 Abendessen, zwischen 17.30 und 20.30 möglicherweise ein bis zwei Stunden „Freizeit“, das heißt, eine offene Zellentür und die Möglichkeit, meinen Nachbarn zu besuchen. Und um 21 Uhr heißt es: „Tür zu, gute Nacht!“; am Wochenende das gleiche Programm, nur ohne Arbeit, dafür Ausschlafen bis um 7 Uhr – und der Nachtverschluss beginnt schon um 17.45 Uhr.

Gefängnisstrafe, das bedeutet auch, im Medienkonsum eingeschränkt zu sein: Fernsehen kann ich nur, wenn ich dafür auch 19 Euro im Monat bezahlen kann; nur Bücher zu lesen, die es in der Gefängnisbücherei zu lesen gibt, Zeitungen nur dann, wenn ich mir ein Abo leisten kann oder es mir gelungen ist, eines der seltenen Sozialabos zu ergattern. Ohne Internet, Smartphone, Twitter, Facebook, WhatsApp, Instagram und Co auskommen. Ich schreibe keine Emails mehr, sondern Briefe. Das finden wir draußen vielleicht nostalgisch-schön und tun es so selten. Die Jungs sitzen in ihren Zellen und warten darauf, dass ihr Brief endlich beantwortet wird und sie vielleicht mal noch ein aktuelles Foto von den Kindern zugeschickt bekommen.

Gefängnisstrafe, das bedeutet, die vielen Kleinigkeiten auszuhalten: keine Privatwäsche tragen zu dürfen, sondern Anstaltskleidung; dass der Sport schon wieder ausfällt, weil der Sportbeamte in der Nachtschicht ist; dass der Hausbeamte, der für mich zuständig ist, heute einen schlechten Tag hat und mies gelaunt ist; dass meine Frau doch nicht zu Besuch gekommen ist, weil das Geld am Ende des Monats nicht mehr fürs Benzin gereicht hat; dass ich vor den anderen Gefangenen den harten Kerl raushängen lassenmuss, obwohl mir gerade zum Heulen zumute ist…..

Das Stückchen Freiheit

Josef Müller beschrieb in seinem Buch „ziemlich bester Schurke“ sehr eindrücklich, was es heißt eingesperrt zu sein: „Es ist ein einschneidendes Erlebnis, wenn du bemerkst, dass es innen an deiner Türe weder ein Schloss noch eine Klinke gibt. Kein Mensch, solange er in Freiheit ist, denkt darüber nach, dass er die Türe seines Zimmers nach Belieben auf- und zumachen kann. Die Tür ist die Freiheit. Hinter ihr geht die Welt auf. Das weiß man und weiß es doch nicht, solange man nicht wenigstens einmal eingeschlossen war. Freiheit heißt: Du kannst gehen, wohin du selbst es willst.

Dieses Gefühl ist schlagartig verschwunden, wenn die Mauer, die dich von der Welt trennt, fließend in eine Metallfläche von zwei mal einem Meter übergeht; eine Metallfläche, die eine Tür ist und doch wieder keine, denn es fehlt ihr am wesentlichen Merkmal: sie öffnen zu können. Auch ich machte diese Erfahrung. Eine nicht näher definierbare Angst, ein Grauen, machte sich in meinem Körper breit. Spätestens jetzt realisierte ich, dass ich eingeschlossen war und nicht wusste, wann die Türe wieder aufging und wer sie aufmachen würde.“

Eine mächtige Stahltür ohne Schlüssel, nur mit einer Nummer. Foto: Tobias Schulte.

Gefängnisseelsorge vermittelt „Freiheit“

Wenn man sich bewusst macht, was Gefängnisstrafe bedeutet, wird ziemlich schnell klar, wie wir Gefängnisseelsorger gefordert sind. In dieser stark reglementierten und engen Welt bieten wir tatsächlich ein Stückchen Freiheit. Weil ich derjenige bin, dem man wirklich sein Herz ausschütten kann und der es auch garantiert für sich behält. Weil man bei einer Tasse Kaffee in meinem Büro für eine halbe Stunde vergessen kann, an welchem Ort man sich gerade aufhält (obwohl auch vor meinen Fenstern Gittern sind). Weil ich zumindest in Einzelfällen auch die materielle Not lindern kann mit einer Tafel Schokolade, einem Fernsehvorschuss, ein paar Buntstiften. Weil ich meinem Gesprächspartner zuhöre und ihn ansehe, auch wenn er es selbst kaum erträgt, sich selbst im Spiegel zu sehen.

Weil ich der Hoffnung ein Gesicht geben darf, dass Gott tatsächlich Vergebung und Umkehr anbietet, auch wenn man zum dritten, fünften, zehnten Mal gescheitert ist. Weil ich mit dem Gefangenen zusammen versuche, Schuld auszuhalten, aber auch Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein. Weil ich für den Gefangenen bete, wenn er selbst keine Worte mehr findet, weil ich ihn segne, wenn er dies wünscht, und ihm zusichere, dass das Leben nicht nur nach dem Tod auf ihn wartet, nicht erst nach der Entlassung, sondern schon hier und jetzt. Weil ich versuche zu vermitteln, dass er sich selbst lieben darf, weil da einer ist, der ihn schon von Anfang an geliebt hat. Und deshalb lasse ich es mir nicht nehmen, ab und zu diese sichtbarste Form der Befreiung zu verkünden: „Packen Sie Ihre Sachen, sie sind entlassen. Sie dürfen gehen!“

Manfred Heitz, JVA Frankenthal | Fotos: Uwe Speicher
Aus der Zeitschrift „eFa Zeitschrift für evangelische Frauenarbeit“, Thema „Freiheit“, Ausgabe Juli/August 2019.

 

2 Rückmeldungen

  1. Birgit sagt:

    Der Beitrag ist sehr realistisch und bewegend. Ich war selbst in Haft und kann es sehr nachvollziehen. Auch ich hab mich an die Seelsorge gewandt und bin darüber sehr dankbar, dass mir einfach nur jemand zugehört hat.

  2. Karin Bean sagt:

    Ein sehr guter Artikel. Mein Bruder war in Haft in der JVA Frankenthal. Er hatte keine Vorstrafen, nur etwas Dummes angestellt, Drogenvermittlung für einen Freund. Mein Bruder hatte auch Hilfe in der Kirche gesucht und gefunden. Leider ist er nach nicht einmal 3 Jahren Haft, nur 4 Wochen vor seiner Entlassung, tot in seiner Zelle aufgefunden worden. Der Notarzt war bei ihm um 9 Uhr abends, trotzdem hatte man ihn nicht ins Krankenhaus gebracht. Ich habe noch Kontakt mit der Seelsorge und lasse auch noch Gebete für ihn sprechen.

    Ich bete für alle Inhaftierten, dass sie den Weg in die Freiheit finden und dies auch erleben dürfen.

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