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Etty Hillesum und Dietrich Bonhoeffer als Inspiration

15. August 2021

Nach der Pandemie-Pause ist das Gefängnis-Musikprojekt ‘Divine Concern’ (Göttliche Betroffenheit) zurück. Für ihre neue Single haben sich die Ehrenamtlichen der hessischen Justizvollzugsanstalten Fulda und Hünfeld mit dem internationalen Projekt “Living Memorial” (Lebendiger Gedenkort) zusammengetan. Die zwei sowohl in englisch als auch auf deutsch verfassten Titel “Searching You“ und „Wer bin ich?”, gedenken zwei herausragenden Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts: Dem deutschen Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) und der niederländischen, jüdischen Schriftstellerin Etty Hillesum (1914-1943).

Es ist der 9. April 1945 am frühen Morgen. Im Gefängnishof des Konzentrationslagers Flossenbürg bei Weiden im Oberpfälzer Wald liegt Unheil in der Luft. Sieben Häftlinge werden aus ihren Zellen geführt. Unter ihnen ist ein deutscher Pfarrer: Dietrich Bonhoeffer. Die Gefangenen werden mit ihrem Todesurteil wegen Hochverrats konfrontiert. Bonhoeffer betet, legt seine Kleider ab und als Verurteilter wird er an einem provisorischen Galgen ums Leben gebracht. Diese Hinrichtung geht in die Geschichte ein… So wie die Lebensgeschichte der 1914 in den Niederlanden geborenen Jüdin Etty Hillesum, die 1943, nach einem mehrjährigen Aufenthalt im Kamp Westerbork, in Auschwitz ermordet wurde. Die Schriftstellerin ist noch keine 30 Jahre alt, ahnte aber, welches Schicksal sie erwartete. „Aus Etty Hillesums Tagebüchern spricht eine tiefe Spiritualität und ein unerschütterlicher Glaube an das Gute in jedem Menschen, Vertrauen in Gott, unerschöpfliche Liebe und unbändige Freude am Leben“, sagt Gefängnisseelsorger Diakon Dr. Meins Coetsier.

Searching You – Etty Hillesum

„Etty Hillesum ist die Gottsucherin par exellence, eine Friedensstifterin und Zeitzeugin“, betont Coetsier. „Ihre Suche nach Dir – Gott – trifft die Mitte unserer Existenz und unserer Menschenwürde.“ Aus dem Durchgangslager Westerbork, der letzten Station ihres kurzen Lebens, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurde, stammt diese Aufzeichnung:

„Wenn ich in einer Ecke des Lagers stehe, die Füße auf deiner Erde, das Gesicht zu deinem Himmel erhoben, dann laufen mir manchmal die Tränen über das Gesicht, entsprungen aus einer inneren Bewegtheit und Dankbarkeit, die nach einem Ausweg sucht. Auch abends, wenn ich im Bett liege und in dir ruhe, mein Gott, rinnen mir manchmal die Tränen der Dankbarkeit übers Gesicht, und das ist mein Gebet […].

Ich kämpfe nicht gegen dich, mein Gott, mein Leben ist ein großes Zwiegespräch mit dir. Vielleicht werde ich nie eine große Schriftstellerin werden, wie ich es eigentlich vorhabe, aber ich fühle mich tief in dir geborgen, mein Gott […]. Und meine ganze schöpferische Kraft setzt sich um in die inneren Zwiegespräche mit dir, der Wellenschlag meines Herzens ist hier breiter und zugleich bewegter und ruhiger geworden, und mir ist, als würde mein innerer Reichtum immer größer.“

Wer bin ich? – Dietrich Bonhoeffer

Die Frage „Wer bin ich?“ ist nicht nur aktuell und der zweite Titel der Single des ehrenamtlichen Gefängnisprojekts, sondern es ist ein echter Knast-Song. Und zwar weil da ein Mann, Dietrich Bonhoeffer, damals einsam in einer Zelle saß. Er war unruhig, deprimiert. Als Inhaftierter und als gläubiger Mensch fühlte er sich unfähig zu beten, war zornig und wütend. Dietrich Bonhoeffer hatte große Träume und Sehnsüchte, war aber gleichzeitig voller Angst.

In seinem Gedicht: „Wer bin ich?“ setzt er sich mit seinen widersprüchlichen Gefühlen und seinem Glaube auseinander. Divine Concern hat mit ihren Aufnahmen nun einen Blick hinter die Verzweiflung dieses Widerstandskämpfers und Gottsuchers – aber gleichzeitig auch von Gefangenen und Menschen heute –, versucht zu vertonen. Die Frage Bonhoeffers gilt mehr al je zuvor: „Wer bin ich?“ Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.“

← Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943. Hg. von J. G. Gaarlandt. Aus dem Niederländischen von Maria Csollány. Reinbek 1985, 216.


Als Singer-Songwriter hat Meins Coetsier mit seiner Musikband “Divine Concern” versucht, die zeitlose Botschaft von beiden Lebenskünstlern zu vertonen. Es ist diese Inspiration, die Divine Concern in ihren Song „Searching You“ gelegt hat. „Diese Single bewusst der Geschichte und Erinnerungskultur zu widmen, ist für uns eine besondere Aufgabe,“ sagen beide Ehrenamtlichen der JVA Fulda und Hünfeld, Addi Haas (Klavier, Akkordeon, Percussion) und Tilo Zschorn (Gitarre). „Wir spielen gerne in der JVA oder draussen, aber diese historisch-musikalische Reise mit dem Projekt Living Memorial ist nochmal eine neue spannende und sinngebende Erfahrung“. Haas ergänzt: „Auch wir suchen nämlich und fragen uns, nach vielen Lockdowns und Beschränkungen, was unsere Identität noch ist und wer wir überhaupt sind – eine Sache ist mir klar: es betrifft jeden!“

 

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