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Weil die Menschen im Gefängnis nicht böser sind

15. Januar 2020

„Du musst unbedingt Deine Erfahrungen aufschreiben!“ Diese Aufforderung begegnete mir so oder ähnlich in den letzten Monaten immer wieder. Manche fragten sogar nach einem Resümee; schließlich war ich an einigem beteiligt, was Gefängnisseelsorge in Land und Bund geäußert und angeregt hat. Vorweg: Resümee, also „Fazit“, geht gar nicht. Und Objektivität fällt schwer. Aber erinnern will ich mich gerne, auch weil Seelsorge im Gefängnis mich geprägt hat.

Erste Erfahrungen im Vollzug machte ich 1981 während eines Sozialpraktikums. Danach nahm ich längere Zeit an einer Kontaktgruppe teil und nach meinem Studium machte ich 1986 so etwas wie ein Einführungsjahr in der Seelsorge der JVA´en Schwerte (langstrafige Männer) und Iserlohn (männliche Jugendliche). Seit den 1980ern hat sich viel verändert. Ein Kontinuum in dieser langen Zeit: immer wird am Vollzug herum reformiert. Mindestens werden Änderungen gefordert und diskutiert, wird um- und neustrukturiert. Unterschiedlichstes habe ich in dieser Zeit gelesen und gehört. Ideen zu weitestgehend privatisierten Gefängnissen, schärferer Bestrafung, Abschaffung der Freiheitsstrafe, besserer Resozialisierung… Häufig habe ich mit Fachleuten aus der Vollzugspraxis diskutiert und nachgedacht, aber auch mit politisch Verantwortlichen, Medienleuten und befreundeten Personen.

Die Fragwürdigkeit des Gefängnisses

Immer wieder ist mir aufgefallen, dass innerhalb wie außerhalb der Mauern die Existenz von Haftanstalten fraglos hingenommen wird. Dabei wurden bereits in den Zeiten der ersten Gefängnisse die ersten ernstzunehmenden grundsätzlichen Anfragen laut. Unser damaliger Anstaltsleiter lud mich Mitte der 1990er ein, an einem Hintergrundgespräch mit Düsseldorfer Journalisten in seinem Büro teilzunehmen. Dabei sagte er: „Für manche hier hätte ich eine bessere Idee als Einsperren, aber nicht für alle. Wir wissen, dass das Gefängnis nicht gut ist, dass es oft nichts nutzt und manchmal schadet. Aber wir wissen nichts Besseres. Das Gefängnis ist das Eingeständnis unserer Hilflosigkeit und unserer fehlenden Ideen.“ Diese Sicht finde ich sympathisch. Und sie ist selten.

Allgemein werden die Freiheitsstrafe und ihr Vollzug durch die Behauptung legitimiert, sie würden die Gesellschaft vor Straftaten schützen. Das ist eine nicht bewiesene und nur in Teilen beweisbare bzw. widerlegbare Behauptung. Tatsächlich trägt Justizvollzug auch zu Entstehung von Kriminalität bei. Zudem ist er eine Quelle von Unrecht (denn es gibt Fehlurteile und manches läuft aus dem Ruder) und er ist eine Herausforderung an jede Gesellschaft, die sich Humanität auf die Fahnen schreibt. Das scheint Gesetzgebenden und anderen Verantwortlichen durchaus klar zu sein. Nicht zuletzt deswegen erhält der Gedanke von Resozialisierung und Wiedereingliederung viel Aufmerksamkeit, weil er als Feigenblatt wirken soll: „Schaut, wir haben humane Ziele.“

Die Menschen im Gefängnis sind auch nicht böser, als die meisten draußen. Foto: Justiz NRW

Wie Friedhöfe gegen Krankheiten

Aber das Gefängnis verfehlt seinen eigenen Anspruch. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr wird nach „Behandlung“ gerufen, nach wirkungsorientierten Maßnahmen für die inhaftierten Menschen. Doch selbst, wenn sie stattfinden: Freiheitsentzug und Entmündigung, die natürlichen Bedingungen des Haftortes, stehen Erfolgen oft vehement entgegen. Angesichts der Vollzugswirklichkeit, die er im Praktikum erlebte, schrieb ein Student in der Auswertung: „Gegen Kriminalität Gefängnisse zu bauen ist wie gegen Krankheiten Friedhöfe.“ Das Gefängnis steht sich selbst im Weg. Resozialisierung im Freiheitsentzug ist ein Widerspruch in sich, sie müsste woanders stattfinden. Damit an sich sinnvolle Maßnahmen greifen, braucht es in aller Regel auch die innere Zustimmung der betroffenen Menschen, was in einer Institution der Fremdbestimmung nicht leicht zu erreichen ist. Lernen von verantwortungsvollem Umgang mit Freiheit funktioniert nicht außerhalb von Freiheit.

Zudem verlieren sich sinnvolle, wirkungsorientierte Maßnahmen nicht selten im innervollzuglichen Spiel von Sicherheitspriorität, Bürokratie und Abschieben von Verantwortung. Daher ist es bedauerlich, dass auch demokratische Staaten bisher keine bessere Antwort auf Delinquenz als Freiheitsentzug gefunden haben. Dies sehen und äußern viel zu wenige vor allem von denen, die Meinung machen und Politik gestalten. Die immerwährende Suche nach Alternativen zur Freiheitsstrafe muss Ziel bleiben. Michel Foucault schrieb: „Man kennt alle Nachteile des Gefängnisses: dass es gefährlich ist, dass es vielleicht sogar nutzlos ist. Und dennoch sieht man nicht, wodurch es ersetzt werden könnte. Es ist die verabscheuungswürdige Lösung, um die man nicht herumkommt.“ (Überwachen und Strafen. S. 296) Wir müssen wenigstens versuchen, Haft zu vermeiden; und wo sie unvermeidbar erscheint, sie so wenig verabscheuungswürdig wie möglich praktizieren: das sind wir uns selbst als Gesellschaft und den Grundüberzeugungen eines Rechtsstaates, das sind wir aber auch unserem Verstand schuldig.

Zuhören ohne Voraussetzung

„Sprechen denn die Verbrecher freiwillig mit dir?“ Wenn ich, was immer wieder geschieht, so oder ähnlich gefragt werde, muss ich zumindest innerlich grinsen. Weil die Menschen im Gefängnis auch nicht „böser“ sind als die meisten draußen. Und weil sich tatsächlich viele freiwillig melden. Überhaupt reden Seelsorgende im Vollzug ausschließlich mit denen, die darum bitten. Der Gesprächsbedarf unter den Gefangenen ist enorm. Und sie wissen: die Seelsorgenden haben Schweigepflicht. Zudem spricht sich rum, dass sie einen Raum anbieten, in dem es weder um Verurteilung noch um Fremdbestimmung geht. Für mich war Prinzip, dass meine Gesprächspartner und (in den Jahren der Frauen-Abschiebehaft in Neuss) Gesprächspartnerinnen bestimmen, was Thema wird.

Dass das meist nicht zu reinen Wohlfühlgesprächen führte, lag an der Ernsthaftigkeit, die ich voraussetzte und in der ich auch selbst zuhörte und meine Fragen stellte. Auch und gerade wenn sich inhaftierte Männer unangenehmen Fragen stellten, führten Gespräche in überraschende Tiefe. Es kam vor, dass mir erzählt wurde, was bis dahin noch nie in Worte gefasst worden war. Nicht selten flossen dann auch Tränen. Auch von Männern, die draußen »den Harten« meinten abliefern zu müssen. Nicht nur ihnen, sondern auch denen, die das nicht nötig hatten, war es lieber, wenn sie sich das verweinte Gesicht waschen konnten, bevor es wieder auf Abteilung ging (in meinem Büro in der „alten Ulm“ ging das noch).

„Ehrlichkeit und Begegnung haben für mich allemal auch eine spirituelle Dimension“, so Wolfgang Sieffert. Foto: Ronald Pfaff.

Ausdrücklich Religiöses

In Gesprächen „draußen“ hat es immer mal verwundert, dass es in den vielen Gesprächen selten explizit religiös wird. Meist geht es zumindest anfangs um erdrückende Lebensprobleme. Die können mit der aktuellen Situation zu tun haben, oder mit unbewältigter Vergangenheit oder mit der Zukunftsperspektive z.B. im Blick auf Kinder, Familie, Beruf oder Ängsten. Ehrlichkeit und Begegnung haben für mich allemal auch eine spirituelle Dimension. Manchmal kam von mir, aber auch schon mal von Gefangenen, der Vorschlag, miteinander zu beten. Seltener wurde ich um einen Segen gebeten, was in der Regel gerne angenommen wurde, wenn ich es vorschlug.

Gefängnis in der Bibel

Wenn einer der Männer von sich aus vorschlug, zu beten, hat mich das nicht verwundert. Nicht alle meine Gesprächspartner nahmen an gottesdienstlichen Angeboten teil, aber keinem blieb verborgen, dass wir Seelsorgende auch beten, denn zu den Sonntagsmessen kamen bis zu 25 % aller Inhaftierten. Außerdem gab es regelmäßige Gruppen-Gottesdienste an Abenden. Predigtinhalte führten schon mal zu Gesprächsanträgen oder zu spontanen Kommentaren auf den Abteilungsfluren. Gelegentlich zeigten sich Inhaftierte durch die Bibel angeregt, die wir in möglichst vielen Sprachen gerne verteilten. Meist, weil sie etwas besser verstehen wollten, aber es passierte auch, dass sie nach biblischen Personen fragten, die wie Jeremia, Petrus und Paulus Gefangenschaft am eigenen Leib erlebt hatten. Die Karfreitage, an denen wir in der Gefängniskirche mit Dias und Liedern einige Kreuzwegstationen meditiert haben, hatten auch deswegen etwas Berührendes, weil Gefangene selbst einiges erfahren haben, was Jesus widerfuhr: Gefangennahme, Verhör, Verurteilung.

Schuld und Versöhnung

Auch das Thema Schuld findet sich in der Bibel. Ich finde es nicht verwunderlich, dass es Inhaftierte (entgegen mancher Erwartung) in der Regel nicht mehr und nicht weniger umtreibt, als beliebige Menschen draußen. Strafrecht und Sünde sind zunächst zwei Paar Stiefel. Eine Reihe von Männern thematisierte mit mir Schuld im Kontext ihrer Tat; fast jedes Mal ging es um nicht mehr wieder gut zu machende Gewalt gegen Menschen. Die Aufarbeitung solcher Taten beginnt oft erst, wenn Prozess und ggf. Revision und Vollzugsplanung abgeschlossen sind. Vorher sind die Täter absorbiert und wie blockiert.

Außer bei solchen Taten spielte „Schuld und Tat“ nur selten eine Rolle, etwa wenn ich es ansprach, weil ich kein Mitempfinden mit von einer Tat Betroffenen spürte (und oft viel später verstand, warum sich da etwas sperrte). Sehr wohl war Schuld häufig Gesprächsthema, ohne dass es um die Tat ging. Alles ganz normal, eben wie draußen, ging es dann z.B. um das, was ich anderen schuldig geblieben bin; beispielsweise Eltern, Geschwistern, eigenen Kindern. Oder es ging um das, was ich mir selbst schuldig bin; oft das schwierigste Thema. Oder was andere an mir verschuldet haben: nicht wenige Straftäter sind selbst Opfer gewesen und leben mit schlimmen und schlimmsten Erfahrungen. Versöhnung mit sich, Versöhnung mit der eigenen Biographie: wie die geschehen kann, ist mir bis heute weitgehend ein Rätsel. Immer habe ich versucht beizustehen und keinesfalls mit guten Ratschlägen zu kommen. Und mehr als einmal haben mich Männer verblüfft, denen gelang, was ich für unmöglich gehalten hatte.

Wolfgang Sieffert hat 1990 mit einer halben kirchlich bezahlten Stelle als Gefängnisseelsorger in der Ulmer Höh‘ in Düsseldorf begonnen. Nach dem Tod von P. Edelbert Rüber wurde er 1994 Herausgeber des Ulmer Echos. 1995 wurde er Landesbediensteter. Ende August 2019 hat er seinen Dienst in der JVA Düsselsdorf-Ratingen beendet.

Pater Wolfgang Sieffert war für viele Menschen im Vollzug jahrzehntelang eine wichtige Ansprechperson und Stütze. Nach 30 Jahren Gefängnisseelsorge und fast ein Vierteljahrhundert als Herausgeber und Chefredakteur des Gefangenenmagazins „Ulmer Echo“ hat er sein Kapitel „Gefängnis“ beendet. Die Redaktion der Gefangenenzeitung „Ulmer Echo“ hat ihn gebeten, über seine Erfahrungen zu schreiben.

Am 31. August 2019 wurde Pater Wolfgang mit einer kleinen Feier im Begegnungszentrum der JVA Düsseldorf-Ratingen verabschiedet. Sein Nachfolger hat Mitte Dezember 2019 seine Arbeit in der JVA aufgenommen. Theo Bögemann ist Diplom-Theologe und Diplom Sozialarbeiter.

 

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