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Die Theologie der Befreiung von 1971 bis 2021

18. Juni 2021

Als Gustavo Gutiérrez im Juli 1968 im Vorfeld der Zweiten Generalversammlung der Lateinamerikanischen Bischöfe (Medellín) in der peruanischen Stadt Chimbote den Vortrag „Hacia una teología de la liberación“ hielt und diesen Text in stark erweiterter Form im Dezember 1971 als Buch unter dem Titel Teología de la liberación. Perspectivas veröffentlichte, ahnte er nicht, welch nachhaltige Wirkungsgeschichte diese Publikation haben würde. In mehrere Sprachen übersetzt und in vielen Auflagen neu ediert, gehört Gutiérrez‘ Theologie der Befreiung zu den bekanntesten theologischen Büchern des 20. Jahrhunderts und erfuhr sowohl begeisterte Zustimmung und intensive Rezeption als auch Kritik und Ablehnung.

Michelle Becka, Franz Gmainer-Pranzl (Hg.), Gustavo Gutiérrez: Theologie der Befreiung (1971/2021). Der bleibende Impuls eines theologischen Klassikers, Salzburger Theologische Studien 64. Interkulturell 21, Innsbruck: Tyrolia 2021

In vier Teilen bietet das Buch eine eindrückliche Vermittlung von Gesellschaftsanalyse und Glaubensreflexion, von Soziologie und Theologie, politischer Positionierung und spiritueller Vertiefung, sozialer Emanzipation und kirchlicher Praxis und fragt in all dem nach den Beziehungen zwischen religiösem „Heil“ und gesellschaftlicher „Befreiung“. Die Herausforderung, angesichts bedrängender Erfahrungen von Armut und Unterdrückung das Verhältnis von „Befreiung“ und „Erlösung“ zu verstehen und theologisch (neu) zu begreifen, bildet den roten Faden dieses Buches, in dem Fragen der theologischen Erkenntnislehre, der Entwicklungstheorie, der Ethik und Politikwissenschaft genauso behandelt werden wie Themen der kirchlichen Pastoral, der Christologie und Soteriologie sowie der Eucharistielehre.

Offensichtlich handelt es sich bei diesem Buch um eine Pflichtlektüre für alle, die es noch nicht gelesen haben. Das Buch bringt Beiträge und Reflexionen anlässlich einer Tagung zur Veröffentlichung dieses Klassikers 1971, die im Burkardushaus in Würzburg Anfang Oktober 2020 veranstaltet wurde. Der erste Teil setzt sich mit dem Entstehungskontext des Buchs auseinander: Peru und Lateinamerika Ende der 1960er Jahre. Für mich ist hier besonders interessant der Beitrag von J. Meier (31-62) mit biographischen Hinweisen zu Gutiérrez und peruanischen Kontext. Ebenso die fein untersuchten Unterschiede zwischen der ersten Ausgabe 1971 und der überarbeiteten Auflage von 1992, in der Gutiérrez mehrere Fragestellungen aktualisierte (Kruip/Wittenbrink, 87-111).

Dabei kommen auch Übersetzungsfehler zur Sprache sowie Hinweise auf verständliche Fehlleistungen deutscher LeserInnen, etwa mit den Begriffen „Volk“, „neuer Mensch“ und „sozialistische Gesellschaft“, die hier in DDR-Nähe leicht missverstanden wurden. Der zweite Teil versucht heutige Einsichten aus dem Buch herzuleiten. Auch hier viele erhellende Beiträge zu Themenbereichen wie Zivilgesellschaft, Gerechtigkeit, Theologie und Gemeindeleben im Verhältnis zu Sozialwissenschaften (der Marxismusvorwurf), Solidarität und Entwicklung. Es ist nicht das letzte Wort zum Thema und das Buch schwelgt nicht in seliger Erinnerung an andere Zeiten, sondern es ist eine Anregung, dass sich ja doch etwas bewegen kann – es hat sich schon einmal etwas bewegt, und wie! – in einer Kirche, wenn sie sich ihren Kontexten öffnet und gläubig auf ihre Praxis gesellschaftlichen Engagements reflektiert.

Christian Tauchner SVD

 

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