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Das war schon immer so zählt nicht als Argument

20. Juni 2021

Der Justizvollzug ist selten Gegenstand sozialethischer Reflexion. Dort stellen sich einerseits sehr grundsätzliche moralische Fragen, und andererseits werden im Gefängnis gesellschaftliche Tendenzen und Bruchlinien besonders deutlich. Aber was ist ethische Reflexion genau? Und welche Formen kann sie im Justizvollzug annehmen? In Ethikkomitees in Justizvollzugsanstalten können unterschiedliche Situationen und Probleme aus dem Vollzugsalltag interdisziplinär diskutiert werden. Dabei geht es nicht darum, eine schnelle Lösung zu finden, sondern zu prüfen, ob das Handeln auf das richtige Ziel ausgerichtet ist.

Ethik ist nicht dasselbe wie Moral – eine wichtige Unterscheidung, die nicht immer gesehen wird. Wenn von einem Bedürfnis nach Ethik die Rede ist, handelt es sich zuweilen um ein Missverständnis. Es scheint eine Sehnsucht nach einer klaren moralischen Orientierung zu geben, nicht so sehr nach Ethik. Moral ist das Gesamt an geteilten Werten und Überzeugungen, Normen und Regeln (dabei sind moralische Normen von rechtlichen zu unterscheiden). Diese gemeinsame Moral ist wichtig, denn sie gibt Handlungssicherheit und Orientierung. Aber: Es gibt nicht nur eine Moral, und gängige Moralvorstellungen können auch fraglich werden. Sie bedürfen der Rechtfertigung. Hier kommt die Ethik ins Spiel. Sie begründet die Moral: Warum ist etwas richtig oder falsch? Sie ist das Nachdenken über Moral. Oder anders gesagt: Das Nachdenken über das richtige Handeln. Es geht um ein Ringen um gute Gründe, um Argumente für ein Richtig oder Falsch. „Das war schon immer so“, zählt nicht als ethisches Argument.

Keine schnelle pragmatische Lösung

Ethik ist also ein anstrengender Reflexionsprozess, kein Rezeptbuch. Ethik kann heißen, Gewohntes zu unterbrechen. Das muss man zulassen und ertragen. Ethische Reflexion kann moralische Überzeugungen festigen, sie aber auch erschüttern. Die Katholische Gefängnisseelsorge in Deutschland hat vor Jahren festgestellt, dass es im Arbeitsalltag immer wieder Situationen gibt, die moralisch fragwürdig sind, aber Räume fehlen, um diese angemessen zu diskutieren. Situationen, die aus meist nicht unmittelbar zu benennenden Gründen unstimmig erscheinen, können im Ethikkomitee von Vertreter(inne)n möglichst vieler Berufsgruppen ohne akuten Handlungsdruck reflektiert werden. Das können sehr unterschiedliche Situationen sein – die Begegnung von Mutter und Kind bei einem Trennscheibenbesuch, die Umstände einer Unterbringung im besonders gesicherten Haftraum oder auch Fragen im Umgang der Bediensteten untereinander.

Unerwartete Perspektiven

Bei der Diskussion im Ethikkomitee geht es nicht darum, eine möglichst schnelle und pragmatische Lösung zu finden. In einer für den Vollzugsalltag ungewohnten Ausführlichkeit wird die Frage gestellt: Was ist eigentlich das Problem und warum ist es ein Problem? Was zunächst offensichtlich erscheint, erweist sich als schwierig, wenn man es in Worte zu fassen versucht. Intuitiv vorhandenesWissen muss verbalisiert werden. Die Interdisziplinarität der an der Reflexion Beteiligten eröffnet zudem einen Zugang zur Komplexität eines Konflikts. Es ist mitunter überraschend, wie weitreichend die Auswirkungen eines unscheinbaren Geschehens innerhalb der Vollzugswirklichkeit sind. Es geht aber nicht darum, bei der Erfassung der Komplexität stehen zu bleiben, sondern unterschiedliche Ebenen, Haupt- und Nebenkonflikte zu unterscheiden und zu identifizieren.

Das Besondere der ethischen Reflexion liegt darin, dass sie zu klären versucht, warum es sich um ein Problem handelt.Was steht auf dem Spiel? Welche leitenden Normen, Werte und Prinzipien werden möglicherweise verletzt?Werden wir dem eigentlichen Ziel unseres Handelns tatsächlich gerecht? Oder auch: Verfolgen wir das richtige Ziel? In der ethischen Reflexion erhält eine Praxis nicht durch Gewohnheit Legitimität, sondern durch die Angabe guter Gründe. Erst wenn hierüber Klarheit besteht, wenn ein Problem auf eine neue, komplexere Weise erfasst ist, können sich auch unerwartete Perspektiven auftun. Handlungsoptionen, an die vorher niemand gedacht hat, geraten in den Blick.

Nicht nur gegeneinander stellen

Das lässt sich verdeutlichen an einer Fallreflexion zum Trennscheibenbesuch: Um zu verhindern, dass Drogen in die Anstalt eingeschleust werden, ist es vielerorts üblich, dass eine drogenabhängige Mutter ihr Kind beim Besuch zwar sehen kann, aber nur durch eine Scheibe. Das ist rechtlich einwandfrei, löst aber bei vielen Beteiligten dennoch Unbehagen aus. In einer Fallreflexion wurde schnell deutlich, worum es hierbei geht: Die Einfuhr von Drogen soll verhindert werden, um die Situation innerhalb der Anstalt nicht zu destabilisieren und Einzelne nicht zu gefährden. Dem entgegen steht nicht nur der menschliche Wunsch, Kind und Mutter die Umarmung zu ermöglichen, sondern auch die juristische Begründung, die sich auf die Vollzugsgrundsätze beruft, sowie das Kindeswohl und der Schutz der Familie. Die ethische Fallreflexion zeigte zweierlei. Zum einen gelang es erst nach einiger Zeit der Diskussion, die Zielperspektiven nicht gegeneinander zu stellen, also für oder gegen die Trennscheibe zu argumentieren, sondern zu überlegen, wie beide Ziele, Sicherheit und Schutz der Familie, realisiert werden könnten. Dadurch erst wird der Blick auf alternative Handlungen gelenkt (zum Beispiel anstaltseigene Windeln für das Kind, Untersuchung der Mutter).

Diese kann das Ethikkomitee abwägen, aber letztlich nicht darüber entscheiden. Zum anderen kann die Reflexion aber auch auf höherer Abstraktionsebene Erkenntnisse generieren. So wurde in diesem Fall durch Abwägung der Verhältnismäßigkeit deutlich, dass es unwahrscheinlich ist, dass der Trennscheibenbesuch Stabilität und Sicherheit innerhalb der JVA stärkt.Wahrscheinlicher ist sogar eine Schwächung aufgrund der emotionalen Folgen für die Inhaftierte. So konnte gezeigt werden, dass die Praxis dem Vollzugsziel kaum entspricht. Nicht immer gelingt es, in den Fallreflexionen konkrete Handlungsoptionen zu erkennen oder Empfehlungen auszusprechen. Oft ist ein Konflikt zu komplex oder die möglichen Alternativen brächten mehr unerwünschte Nebenfolgen mit sich als die gegenwärtige Praxis. Auch das können Ergebnisse sein.

„Etwas“ verändert sich

Ein Ethikkomitee entfaltet Wirkungen, auch wenn diese bislang nicht empirisch erfasst (und wohl auch nicht hinreichend messbar) sind. Es zeigt sich, dass nicht nur die persönliche ethische Kompetenz der Mitglieder des Ethikkomitees steigt, sondern auch Veränderungen in der Anstalt erkennbar werden. Die bloße Tatsache, dass Kommunikation ermöglicht wird, wirkt für einige befreiend. Die Sensibilität für die Wahrnehmungvon schwierigen Situationen wird gesteigert und es wird möglich, diese anzusprechen. „Etwas“ verändert sich. Und nicht selten werden tatsächlich die in den Blick genommenen Praktiken geändert. Ethikkomitees im Justizvollzug haben daher eine organisationsethische Dimension, da sie Praktiken innerhalb der Organisation reflektieren, sie am Vollzugsziel der Resozialisierung überprüfen und letztlich zu deren besserer Realisierung beitragen. Dazu bedarf es Strukturen, die ein Ethikkomitee ermöglichen und die die Wirksamkeit der Ergebnisse überprüfen. Die Komitees haben eine professionsethische Dimension, da sie die Reflexionskompetenz und die Selbstreflexivität der Bediensteten stärken und so dazu beitragen, dass sie ihre Aufgaben besser erfüllen. Sie stellen daher einen Ort ethischer Reflexion innerhalb der Justizvollzugsanstalt dar, weitere Bausteine ethischer Reflexion (vom informellen Gespräch über Infoveranstaltungen zu Stärkung der Ethik in Ausbildung) sind denkbar und wünschenswert.

Michelle Becka | Universität Würzburg

 

1 Rückmeldung

  1. H.O sagt:

    Trifft sich ja hervorragend, dass man in Bayern selten katholisch ist. Braucht man sich um Ethik also auch nicht zu kümmern…
    Wo kommen wir denn dahin? Resozialisierung? In Bayern? Gibts nicht, ist auch nicht erwünscht… Leider.

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