parallax background

Gefängnisarchitektur und Resozialisierung

18. Mai 2019

96 Prozent aller Inhaftierten verlassen irgendwann das Gefängnis, 40 Prozent der Entlassenen werden innerhalb des ersten Jahres in Freiheit wieder rückfällig – das ist das große Dilemma des Strafvollzugs. Ihr Anteil steigt, je restriktiver der Strafvollzug gestaltet wird; ihr Anteil sinkt, je besser die Hilfsangebote und die Betreuung der Straftäter greifen, und zwar während und nach der Haft. Doch wie gestaltet man ein Gefängnis?

Deutschlands jüngste, komfortabelste und architektonisch bemerkenswerteste Haftanstalt? Anstelle von stacheldrahtbewehrten Mauern umgeben zwei Zäune die Justizvollzugsanstalt Heidering in Großbeeren bei Berlin – das Gelände liegt zwar in Brandenburg, ist aber Teil der Berliner Stadtgüter, gehört politisch also zum Land Berlin. Von außen gut sichtbar sind Sportanlagen, drei X-förmige Hafthäuser mit rostroten und ockerfarbenen Fassaden sowie Hallen für Werkstätten und Schulen.

Prinzip Transparenz

Alle Bereiche des Gefängnisses verbindet die „Vollzugsmagistrale“, ein 260 Meter langer, komplett verglaster Gang – videoüberwacht, unbeheizt, damit die Gefangenen spüren ob „draußen“ Winter oder Sommer ist, und lichtdurchflutet. Der österreichische Architekt Josef Hohensinn hat das „Prinzip Transparenz“ an oberste Stelle gestellt. Josef Hohensinn hat bereits ein Gefängnis dieser Art gebaut: 2005 wurde in der Steiermark das von ihm entworfene „Justizzentrum Leoben“ eröffnet, ein Gerichts- und Gefängniskomplex aus einer luftigen Glas- und Holzkonstruktion. Leiten ließ sich der Grazer Architekt von Artikel 10 des UN-Menschenrechtsabkommens, den er einem Stempel gleich neben dem Eingang des Justizzentrums auf einem Schild verewigen ließ. Mit Unverständnis reagieren viele BürgerInnen auf den „Luxusknast“ bei Großbeeren, der besser ausgestattet sei als manche Berliner Schule. Vergeltung solle das Ziel des Vollzugs sein! Strafe müsse wehtun! Dabei ist nüchtern betrachtet die schicke JVA Heidering auch nur ein Knast mit straff geregeltem Tagesablauf, gut zehn Quadratmeter kleinen Hafträumen, Stahltüren, ständiger Überwachung und regelmäßigem Einschluss.

Luxus oder Armut

Reizarmut und Ausgrenzung – zwangsläufige Begleiterscheinungen von Gefängnisaufenthalten – führen zur psychischen und sozialen Deprivation, einem Zustand der Entbehrung und des Verlustes von Vertrautem. Eine Studie des „Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V.“ kommt zu dem Schluss, dass viele Inhaftierte unter Ängsten, Bindungsstörungen und Depressionen leiden. Selbst Schuld, mag mancher denken. Das Problem ist nur, fast alle Gefangenen werden irgendwann entlassen. Totschläger und Erpresser, Kinderschänder und Diebe sind dann – hoffentlich – wieder unscheinbare NachbarInnen. Damit sie das bleiben, damit sie nicht rückfällig werden, brauchen Straftäterinnen und Straftäter Unterstützung: Therapien, Arbeit, Bildung. Diese Hilfen greifen aber in angenehm gestalteter Umgebung einfach besser. Wer lernt schon gern in modrigen, dunklen Kerkern? Man müsse sich zudem vor Augen führen, wer in den Knästen einsitzt: Die meisten der „schweren Jungs“ mit großer Klappe und viel Kraft sind in Wahrheit klägliche Versager, so Architektin Andrea Seelich, die kein Selbstwertgefühl haben und sogar als Kriminelle versagt haben, sonst wären sie nicht im Gefängnis.

Vier Regeln im Knast

Oldenburg in Niedersachsen. Keine zehn Minuten dauert die Fahrt mit dem Auto aus dem Zentrum der Universitätsstadt zur Justizvollzugsanstalt. Sie erstreckt sich in Form eines „W“ auf einem zehn Hektar großen Gelände. Inklusive Sportplätzen und Werkstätten, therapeutische Einrichtungen und Krankenstationen – den 300 Gefangenen fehlt es an nichts, sieht man mal von der Freiheit ab. 2001 wurde das „Alcatraz des Nordens“ eröffnet, ein Gefängnis der höchsten Sicherheitsstufe: Wer in Niedersachsen ein schweres Verbrechen begeht, landet mit hoher Wahrscheinlichkeit hier. Trotz dieser Bürde hat sich der Oldenburger Knast mittlerweile zu einer Musteranlage entwickelt. Gerd Koop, Leiter der JVA Oldenburg, erzählt von den vier Regeln: Der Knast muss immer sauber sein, es darf keine Gewalt, keine Drogen geben, und ein bisschen Geld muss auch für bestimmte Serviceleistungen gezahlt werden. Wer diese Regeln einhält, muss sich die Hafterleichterungen nicht verdienen, er bekommt sie vom ersten Tag an frei Haus: tagsüber geöffnete Hafträume, telefonieren aus Telefonzellen, Radio und Fernseher auf der Zelle, absperrbare Fächer im Kühlschrank auf der Stationsküche, Waschmaschinen.

Erinnerungen an Freiheit

Der Erfolg gibt Gerd Koop recht: Die Stimmung in der JVA Oldenburg ist erstaunlich friedlich, Gewalt und Drogen sind fast verschwunden. Weit wichtiger noch: Das Gefängnispersonal ist kein Feindbild mehr. Auch weil die Beamtinnen und Beamten den Neubau der Justizvollzugsanstalt Oldenburg mitgestaltet haben, auch das ist einmalig in Deutschland, fühlen sie sich ebenfalls wohl in ihrer Arbeitsumgebung. Es sind Kleinigkeiten, die Gefangene daran erinnern, dass sie zwar für eine kürzere oder längere Zeit ihre Freiheit verloren haben, nicht aber ihre Würde und Verantwortung für sich selbst, erläutert die Wiener Gefängnisarchitektin Andrea Seelich. Sie sagt, in einer Zwangsgemeinschaft kann man nicht Freiheit lernen, sondern nur Eigenverantwortung lernen. Das sei ein Riesenvorteil, wenn man später wieder in Freiheit zurecht kommen soll.

Und an noch etwas haben die Planerinnen und Planer der JVA Oldenburg gedacht: Die Möbel sind aus Holz, nicht aus Kunststoff. Wenn die Sonne durch den Raum wandert, verändern sich die Farben ihrer Oberflächen. Ein Phänomen, das es nur bei natürlichen Materialien gibt. Eine ästhetische Marginalie? Nein, das Farbenspiel beugt der im Gefängnis so gefürchteten Reizarmut vor. Farben spielen in Gefängnissen eine wichtige Rolle, die in ihrer subjektiven Wirkung aber noch nicht gänzlich erforscht sind. Mehr lesen…

Ein Beitrag des SWR 2 Wissen | Mirko Smiljanic 

 

Feedback 💬

Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert