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Freiheitsgefühle am Knastfenster genießen

12. September 2021

In den Justizvollzugsanstalten reden Gefangene abends und nachts besonders intensiv an ihren Haftraumfenstern. Das ist zwar verboten, aber nicht zu verhindern. Sie unterhalten sich am vergitterten Fenster und der zweiten Feinvergitterung. Dies ist kein Grund nicht doch etwas ans andere Fenster „zu pendeln“. Eine Zigarette, eine Briefmarke oder andere pulverartige Substanzen. Zusammengeknotete Plastiktüten lässen sich sehr gut als „Pendel“ nutzen. Im Wind weht dies mit dem Inhalt zum Haftnachbarn unterhalb oder nebenan.

An diese Situation erinnert das Bild, das im Hamburger Stadtteil St. Georg in einem Wohngebiet aufgenommen wurde. Ein junger Mann, der im 15. Stock an der Fensterbank sitzend an seinem Notebook arbeitet. Vielleicht befindet er sich in Quarantäne? Ob er sich der Gefahr bewusst ist? Wahrscheinlich nicht. Er hat keinen Balkon, sonst könnte er dort die frische Luft einatmen. Not macht erfinderisch. Einfach an den Fensterrand sitzen und zwischen den Welten sein. Von außen sieht dies sehr bedrohlich aus. Doch ob der junge Mann dies genauso empfindet?

Von Fenster zu Fenster

Im Knast sind die Verbote in dieser Hinsicht oft zweitrangig. Zu sehr ist das Bedürfnis groß, sich mit anderen zu unterhalten. So manche Unterhaltung am Haftraumfenster spielt sich regelrecht hoch. „Man“ ist ja geschützt. Da kann man „offen reden“. Niemand kann einem etwas. Nicht einmal die Bediensteten, die nachts ihre Runden drehen. Oft lassen sich die Stimmen nicht zuordnen. Beleidigungen, obszöne Rufe oder verbale Ausdrücke springen von Fenster zu Fenster. Manche Mitgefangene berufen sich am nächsten Tag mit ihren inoffiziellen Regeln darauf. Sie setzen andere damit unter Druck. Systemrelavate Abhilfe schafft eine Fensterkralle, die das Fenster nur im schrägen Modus öffnen lässt. Doppelte Strafe: Das Gitter, die Feinvergitterung und die Fensterkralle.

Nicht nur Smalltalk gibt sich die Runde

Die Nachtschicht der Bediensteten muss sich einiges anhören. Untereinander ebenso. „Hy Brudder“, sagt da einer. Gerüchte und nicht nur Smalltalk geben sich die Runde. Eine Art Internet in manueller Weise. Information ist alles. Ob diese fundiert sind, ist nicht so wichtig. Man könnte das Fenster zumachen und sich seinem Fernsehprogramm widmen. Doch manche Gefangene wollen so manches Gesagtes nicht auf sich beruhen lassen. Drohungen werden ausgerufen. Sogar die Flachbildfernseher wechseln die Fenster, wenn man denn die Feinvergitterung überwinden kann. Eine Schadensmeldung hat das zur Folge.

Der junge Mann im Hamburger Stadtteil St. Georg mag in dieser Hinsicht freier sein. Es sei denn, jemand ruft die Feuerwehr, weil er meint, es bestünde eine Gefahr. Doch danach sieht es nicht aus. Zumindest sind da keine Gitter, die dieses Genießen verhindern könnten. Oder was meinen Sie?

Michael King | Fotos: Hartmann

 

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