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10 Jahre nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts

24. Juni 2021

Nach dem Paukenschlag des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4.5.2011 sollte alles anders werden. Behandlungsorientierung, Freiheitsorientierung – das sind die großen Worte, mit denen der Geist dieses Urteils zusammenfassend umrissen wurde. Von 7 Geboten ist die Rede, die für eine neue Praxis stehen sollte. Als Erstes ist das das Ultima-ratio-Prinzip, also der grundsätzliche Auftrag, die Sicherungsverwahrung (SV) nach Möglichkeit abzuwenden. Bereits in der Zeit der Strafhaft sollte alles getan werden, um den Antritt zu vermeiden und die SV nur zum allerletzten Mittel werden zu lassen. Und dann folgen sechs weitere Gebote wie das Individualisierungsgebot, das Intensivierungsgebot, das Motivierungsgebot, das Trennungsgebot, das Kontrollgebot und das Minimierungsgebot.

All diese Gebote haben den Zweck, dass die Zeit in der SV möglichst kurz sein sollte, die Untergebrachten motiviert auf sie zugeschnittene Angebote erhalten, ein Recht auf vollzugsöffnende Maßnahmen haben und das alles auch gerichtlich überprüfbar sein sollte. Im Prinzip ist das der Erfahrung geschuldet, dass sich bis dato wenig bei Untergebrachten tat, sie in der Strafhaft nur in Ausnahmefällen eine Therapie erhielten und der Antritt der SV nahezu zwangsläufig geschah. Das Bundesverfassungsgericht rügte ferner das, was auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Dezember 2009 gerügt hatte: die Doppelbestrafung und die Nichteinhaltung des Abstands zwischen Strafhaft und Sicherungsverwahrung. Die SV war zu ähnlich der Haft. All diese neuen Vorgaben sollten zügig umgesetzt werden und dafür räumte das Bundesverfassungsgericht eine Übergangszeit von zwei Jahren ein.

In diesen zwei Jahren wurden neue Gesetze geschrieben. Zunächst das Gesetz zur Sicherstellung des Abstandsgebotes in der Sicherungsverwahrung und dann je-weils ein Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz (SVVollzG) für jedes Bundesland, selbst für Bundesländer, die gar keine SV vollstrecken. Ferner gibt es seitdem Abschnitte in den Strafvollzugsgesetzen, die sich mit den sog. Vornotierten oder Anschluss-SVern befassen. Eine bessere Ausstattung mit größeren Hafträumen, die eine Welle von Um- und Neubauten auslöste, hat es in den Folgejahren gegeben. Wenn auch nicht in der Frist von zwei Jahren sind inzwischen alle Einrichtungen in Deutschland – aktuell bundesweit 13 Einrichtungen – nach den neuen Kriterien ertüchtigt . Die Zugangsvoraussetzungen für das Aussprechen einer SV wurden deutlich geändert: In Zukunft sollte sie nur noch möglich sein bei Verbrechen gegen Leib und Leben. Die SV für Jugendliche und Heranwachsende wurde abgeschafft; die nachträgliche SV so eingegrenzt, dass sie faktisch nicht vorkommt. Es gab eine kleine „Welle“ von Entlassungen und eine große Angst davor. Während das statistische Bundesamt 2010 einen vorläufigen Höchststand von 536 Untergebrachten ausweist, sank die Zahl im Jahr 2012 auf 466. Inzwischen ist die Zahl wie-der ansteigend und der Höchststand aus 2010 seit 2018 mit 566 bereits wieder überboten.

In diesem Artikel möchte ich nicht auf die hinlänglich bekannte Vorgeschichte der SV in Deutschland eingehen , sondern dem nachgehen, was aus gefängnisseelsorgerlicher Sicht sich hinter den Zahlen verbirgt, die seit 2012 wieder kontinuierlich anwachsen. In gewisser Weise spiegeln die nachfolgenden Abschnitte eine Binnensicht auf das System SV wider. Aus den jeweiligen Beobachtungen ergeben sich Fragestellungen bis hin zu ethischen Implikationen. Mit dem spezifischen Blick der Gefängnisseelsorge wird versucht umfänglich zu beschreiben, in welcher Weise und wie das System auf die Untergebrachten wirkt, welche Auswirkungen es bei ihnen hat und welche Möglichkeiten der Gefängnisseelsorge bleiben.

1. Bemühungen des Vollzugs

In allen Einrichtungen in Deutschland kam es zu einer deutlichen baulichen Verbesserung der Unterbringung. Vielfach wurde neu gebaut wie in Brandenburg, Burg, Bützow, Dietz, Meppen, Rosdorf, Straubing, Tegel und Werl – allerdings durchweg angeschlossen an bestehende JVAen . Oder es wurde umgewidmet wie in Freiburg, aber zumindest saniert wie in Bautzen, Hamburg und Schwalmstadt. Die Ausstattung der Hafträume wurde besser (z.T. mit Pantry-Küche), die Fernseher größer, die Möglichkeit zur Anschaffung verschiedener Dinge ausgeweitet. Zugang zum Außengelände wird in der Regel ganztägig gewährt, die Arbeit bei Wegfall der Arbeitspflicht höher entlohnt. Für die Entlassungssituation gibt es nunmehr den Standard aus anderen Einrichtungen des sog. Maßregelvollzugs bis hin zu Langzeitbeurlaubungen (bis zu 6 Monaten) und die Bereitstellung der nötigen finanziellen Mittel. Darüber hinaus ist in hohem Maße neues Fachpersonal eingestellt worden, so dass vielfach für 20 Untergebrachte eine Stelle im Sozialdienst und im psychologischen Dienst zur Verfügung stehen .
Insgesamt wurde hier den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entsprochen und entsprechend angepasst.

2. Probleme des Vollzugs

Auffallend ist zunächst die hohe Fluktuation beim Personal in allen Bereichen. In Baden-Württemberg wird deshalb als zusätzlicher Anreiz eine Zulage für die in der SV Tätigen gewährt. Als Beispiel mag die Not bei der Besetzung der Leitungsstelle SV in der JVA Werl benannt sein: Eine erste Ausschreibung lief leer. Bei der der zweiten wurde das Gehalt um eine Gehaltsstufe (auf A 16) erhöht und dann gab es – eigentlich ungewöhnlich – eine Besetzung aus einem anderen Bundesland. Aber auch diese Besetzung währte keine 18 Monate. Danach trennte man die stellvertretende Leitung der Gesamtanstalt von der Leitung der SV, stufte das Gehalt wieder eine Stufe (auf A15) zurück und hatte – wenig überraschend – wieder keine Bewerbung. Man behilft sich mit Berufsanfängerinnen, die ebenfalls – wenig überraschend – wenig entscheiden. Das korreliert mit den Zahlen von Entlassungen: 2019 sind mit dieser Leitung 7 Untergebrachte auf freien Fuß gesetzt worden, in den Jahren davor nur 1 bis 2 und seitdem auch wieder. Richtig ist, dass es in hohem Maße der Übernahme von Verantwortung bedarf, um gerade Menschen aus der SV zu lockern und zu entlassen. Warum sollte man dies am Anfang seiner Karriere tun?

Das noch größere Problem ist das Problem der Motivation der Untergebrachten. Dies ist ja die Kernaufgabe des neuen Fachpersonals. In der Regel sind die Mitarbeiter*innen – übrigens fast ausschließlich Berufsanfänger*innen – sowohl für die Motivation wie auch für die Diagnostik zuständig. Der mühselig aufgebaute Gesprächsfaden reißt in vielen Fällen nachdem der Untergebrachte die erste Beurteilung der entsprechenden Person gelesen hat. Die Sinnhaftigkeit der doppelten Zuständigkeit ist zumindest noch nicht insoweit in Frage gestellt worden, als dass man das Prinzip geändert hätte. Stattdessen gab es andere Versuche der Motivation. Man profilierte eine Abteilung zur Lockerungs- und Vorbereitungsstation, um einen Anreiz zu schaffen. Aber leider widerspricht auch dies dem Auftrag der Gesetzgebung, die Motivationsanreize für alle Verwahrte in gleichem Maße vorsieht. Also schloss man diese Abteilung ersatzlos. Noch interessanter ist, dass es in der JVA Werl seit einiger Zeit auch keine Sozialtherapeutische Abteilung mehr gibt. Die Verwahrten in NRW haben nur noch die Möglichkeit unter Strafhaftbedingungen in die SoThA nach Bochum zu wechseln. Und so kommt es zu dem, was selbst der kurzfristige Leiter der SV in Werl als großes Problem benannt hat: 50% der Untergebrachten sprechen nicht mehr mit dem Personal. Gesamter Artikel…

Pfarrer Adrian Tillmanns
Von 2006 bis 2021 evangelischer Seelsorge in der JVA Werl und mit der dort befindlichen SV betraut.
Von 2009 bis 2014 Beauftragter der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland für die Sicherungsverwahrung.
Sprecher der ök. AG SV der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland (seit 2015)

 

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